Dieser Artikel basiert auf der Masterarbeit des Autors: Kuhnert, Tobias (2023). Identitätsprozesse junger lesbischer und bi Frauen. Tanz zwischen Heteronormativität und lesbischem/bi Selbst bewusstsein. Tectum Verlag. https://doi.org/10.5771/9783828879904
Tobias Kuhnert (2024)
Zusammenfassung
In dieser Grounded Theory-Studie wurden Identitätsprozesse junger lesbischer/bi Frauen anhand von neun narrativen Interviews mit 15- bis 25-jährigen lesbischen/bi Frauen untersucht. Die in einem Modell dargestellten Identitätsprozesse sind geprägt von den Einflüssen der Heteronormativität, der Auseinandersetzung mit dieser, sowie von einem, durch verschiedene Faktoren und Handlungsstrategien wachsenden, lesbischen/bi Selbstbewusstsein. Die Ergebnisse können dazu beitragen, die Lebensrealitäten lesbischer/bi Frauen besser zu verstehen, ihre Agency zu vergrössern und die Soziale Arbeit queerfreundlicher auszugestalten.
Schlüsselwörter: Identitätsprozess, sexuelle Orientierung, Heteronormativität, Jugend, Soziale Arbeit
«And then my whole world suddenly became colourful». Identity processes of young lesbian and bi women as a dance between heteronormativity and lesbian/bi self-consciousness
Summary
This Grounded Theory study explored identity processes of young lesbian/ bi women through nine narrative interviews with 15- to 25-year-old lesbian/bi women. The identity processes depicted in a model appear in particular as the impact of heteronormativity and the struggle with it, as well as a growing lesbian/bi self-consciousness as a result of various factors and strategies. The results can contribute to a better understanding of the lived realities of lesbian/bi women, to increasing their agency and to making social work more queer-friendly.
Keywords: identity process, sexual orientation, heteronormativity, youth, social work
In den letzten Jahren wurden in der Schweizer Rechtslage einige Fortschritte für queere Menschen erreicht, wie beispielsweise die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare oder die Ausweitung des gesetzlichen Verbots des Aufrufs zu Hass und Diskriminierung auf die sexuelle Orientierung. Auch die Sichtbarkeit queerer Lebensweisen und Menschen in Öffentlichkeit und Medien wurde grösser. Dennoch ist Heteronormativität weiterhin eine der prägendsten Normen im persönlichen und sozialen Leben in westlichen Gesellschaften. Heteronormativität beschreibt die biologistische Normierung körperlicher Merkmale in einem binären System (männlich/weiblich) und die darauf beruhende Setzung von Cisidentität, Heterosexualität/-romantik, Männlichkeit, sowie binären und konträren Geschlechterrollen und Geschlechtsausdrucksarten als überlegene Norm (Butler, 1990/2003; Hartmann & Klesse, 2007).
Heteronormativität geht einher mit der Durchsetzung von Privilegien und Macht für diejenigen, die diesen Normen entsprechen, und mit Stigmatisierung und Diskriminierung derjenigen, auf die das nicht zutrifft (Foucault, 1976/1983; Goffman, 1963/2018; Link & Phelan, 2001). Gut 80% der queeren Jugendlichen in Deutschland haben denn auch Diskriminierungserfahrungen gemacht, fast die Hälfte von ihnen in der Familie und ein ähnlich hoher Anteil in Schule, Ausbildung und Beruf, ein Drittel hat sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum erlebt, bei den jungen lesbischen Frauen sogar die Hälfte (Krell & Oldemeier, 2016). Erfahrungen von Diskriminierung und Gewalt können schwerwiegende psychische und physische Folgen haben, insbesondere für queere Menschen, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind (LesMigraS, 2012). So sind beispielsweise Suizidalität wie auch Depressivität bei LGBT-Menschen in der Schweiz signifikant höher als in der Gesamtbevölkerung (Krüger et al., 2023).
Insbesondere für junge queere Menschen – die bereits mit den altersbedingten Entwicklungsaufgaben beschäftigt sind – ergeben sich aus der Auseinandersetzung mit sowie aus der Diskrepanz zwischen ihren persönlichen Gefühlen und den Erwartungen der Heteronormativität zusätzliche Belastungen und Herausforderungen in Identitäts(entwicklungs)prozessen wie auch in ihrem Umgang mit ihrem queer Sein in sozialen Beziehungen (Krell & Oldemeier, 2017; Meyer, 2003). Das Verstecken des eigenen queer Seins ist dabei ein verbreitetes Handlungsmuster, um negative Reaktionen zu vermeiden (Krell & Oldemeier, 2017; Zuehlke, 2004). Informationssuche zu queeren Themen oder auch ein Engagement in queeren Gemeinschaften sind wichtige Handlungsstrategien im Umgang mit der eigenen queeren Identität (Krell & Oldemeier, 2017).
Lückenhaftes Bild queerer Identitätsprozesse
Dieser kurze Einblick in die Thematik zeigt ein komplexes Spannungsfeld: Einer seits steigt die gesellschaftliche Akzeptanz queerer Menschen, andererseits besteht Heteronormativität ungebrochen fort und wirkt sich massgeblich auf das Leben und die Identitätsprozesse (insbesondere) queerer Menschen aus, die sich zu ihr verhalten müssen. Dabei lässt sich die empirische Datenlage folgendermassen beschreiben: Zu Diskriminierungserfahrungen (junger) queerer Menschen existieren einige Studien, teilweise auch aus der Schweiz und dem deutschsprachigen Raum (Krell & Oldemeier, 2017; LesMigraS, 2012; Wang et al., 2015; Weber, 2022).
Auch zur Identitätsentwicklung und zu Coming-out-Verläufen junger queerer Menschen wurde viel geforscht (Cass, 1979; Chapman & Brannock, 1987; Coleman, 1982; Lewis, 1984; Troiden, 1989), wobei sich hier bedeutende Kritiken und Lücken zeigen: Im deutschsprachigen Raum ist die Datenlage äusserst dünn, besonders bezüglich junger Menschen. Aus der Schweiz gibt es zu Identitätsprozessen queerer Menschen keine empirischen Daten, ausser einzelner Arbeiten zu jungen schwulen Männern (insb. Berchtold, 2012). Viele der vorhandenen Identitätsentwicklungsmodelle sind zudem mit einem normativen Entwicklungsbegriff versetzt, also der Erwartung, dass bestimmte Entwicklungs aufgaben erfolgreich abgeschlossen werden müssen, um eine gesunde queere Identität erreichen zu können. Sie sind überdies von einer intraindividuellen Perspektive geprägt, die soziale Kontexte kaum berücksichtigt. Weiter untersuchten viele dieser Modelle vornehmlich schwule Männer, nahmen jedoch oftmals eine Übertragung auf lesbische Identitätsentwicklung an oder behaupteten diese. Die fehlende Aktualität der Daten ist ebenfalls ein Schwachpunkt:
Zunehmende rechtliche Gleichstellung und grössere Sichtbarkeit queerer Lebensentwürfe und Menschen haben einen Einfluss sowohl auf Identitätsprozesse wie auch auf Stigmatisierung und Diskriminierung (Cass, 1996; D’Augelli, 1994; Eliason & Schope, 2007), womit aktuelle Modelle für junge queere Menschen von heute notwendig werden.
Schliesslich ist eine Verknüpfung der beiden Themen «Identitätsprozesse» sowie «Stigmatisierung und Diskriminierung» über die gesamte Datenlage betrachtet selten zu finden. Dasselbe gilt für Ressourcen und unterstützende Faktoren, die kaum je erhoben und systematisch einbezogen werden. Eine systemische Perspektive, die mögliche Wechselwirkungen von Stigmatisierung, Identitätsprozessen und Ressourcen aufzeigt, kann daher einen Erkenntnisgewinn bringen.
Mit einer systemischen Perspektive lesbische/bi Identitätsprozesse ergründen
Es ergibt sich somit ein Forschungsbedarf zu queeren Identitätsprozessen, der folgende Aspekte in den Fokus rückt: Identitätsprozesse sollen unter einem nicht-normativen Entwicklungsbegriff und mit einer systemischen Perspektive betrachtet werden. Es gilt zudem, Identitätsprozesse unter den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen für junge queere Menschen in der Schweiz zu erforschen. Schliesslich soll dabei der Fokus auf andere queere Menschen als schwule cis Männer gelegt werden.
Die vorliegende Studie untersuchte daher, wie und unter welchen Bedingungen und Einflussfaktoren Identitätsprozesse junger lesbischer/bi Frauen in der Deutschschweiz verlaufen und wie lesbische/bi Frauen mit ihrer lesbischen/bi Identität umgehen. Sie lieferte überdies Erkenntnisse dazu, in welchen Bereichen sich Handlungsbedarfe für die Soziale Arbeit zeigen, um die Handlungsmacht/Agency junger lesbischer/bi Frauen in Bezug auf ihre sexuelle/romantische Orientierung zu stärken und Diskriminierung zu vermindern.
Die mit der vorliegenden Studie erlangten Erkenntnisse über Identitäts prozesse junger lesbischer/bi Frauen sollen somit eine bessere sozialarbeiterische Begleitung junger lesbischer/bi Frauen ermöglichen (individuelle Ebene). Ausserdem werden damit Herausforderungen und Ressourcen sichtbar, die im sozialen Umfeld junger lesbischer/bi Frauen und in der weiteren Gesellschaft liegen und somit ein Handlungsfeld für die Soziale Arbeit darstellen (Gruppenebene und gesellschaftliche Ebene). Um diese Herausforderungen und Bedürfnisse hat sich die Soziale Arbeit aufgrund ihres Auftrags, soziale Probleme zu bearbeiten, Diskriminierung zu vermindern sowie soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Selbstbestimmung zu ermöglichen, zu kümmern (Avenir Social, 2010; Bronner & Paulus, 2017). Dafür ist Wissen über die Lebenslagen
der Adressat*innen notwendig, zu dessen Aufbau die vorliegende Studie einen Beitrag leistet. Dass professionelle, queersensible Haltungen und entsprechendes Handeln sich positiv auswirken, wurde verschiedentlich bestätigt: Ob Fachpersonen bei einem queerfeindlichen Klima und bei queerfeindlichen Vorfällen intervenieren oder nicht, ob sie Gleichwertigkeit und Unterstützung für Minderheiten propagieren, oder ob sie positiv und unterstützend auf Coming-outs reagieren, beeinflusst die psychische Gesundheit junger queerer Menschen (Krell & Oldemeier, 2017; Plöderl et al., 2009) – queerfreundliche Soziale Arbeit wirkt also.
Deutsche Studien (Schumann & Wöller, 2015; Staudenmeyer et al., 2016) zeigten jedoch, dass es in der Jugendarbeit sowie der Kinder- und Jugendhilfe an Sensibilisierung und queerfreundlichem Handeln der Fachpersonen der Sozialen Arbeit mangelt sowie dass die meisten Angebote für queere Jugendliche und mit queerfreundlicher Haltung von queeren Vereinen selbst stammen. Eine ähnliche Situation zeigt sich in der Schweiz (Hofmann et al., 2019). Für die Schulsozialarbeit in der Schweiz stellte Staniszewski (2019) fest, dass einige Schulsozialarbeiter*innen die Besonderheiten queerfeindlicher Diskriminierung und die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen junger queerer Menschen verkennen, und sich dies in unzureichend queerfreundliches und unterstützendes Handeln übersetzt. Ähnliches ist in der Kinder- und Jugendhilfe festzustellen: Die Fachpersonen schätzen ihre Kompetenz im Umgang mit queeren Jugendlichen zwar als gross ein und sind der Meinung, eine offene Haltung sei in ihrer Einrichtung erkennbar, jedoch lässt sich beides nicht erhärten (Schumann & Wöller, 2015). Im Schulkontext erleben junge queere Menschen, dass ihre sexuelle/romantische Orientierung und/oder Geschlechtsidentität überbetont wird und sie darauf reduziert werden, aber auch, dass ihre queere Identität ignoriert und nicht ernst genommen wird, oder dass ihre Privatsphäre nicht geachtet wird (Krell & Oldemeier, 2017; Watzlawik et al., 2017). Dies deutet auf grosse Wissenslücken und fehlende Sensibilisierung von Fachpersonen hin.
Die vorliegende Studie orientierte sich am Identitätsverständnis des Symbolischen Interaktionismus, demgemäss ein Mensch Identität in der Verbindung mit anderen Menschen entwickelt, «indem er die Haltungen anderer Individuen gegenüber sich selbst … einnimmt» (Mead, 1934/1975, S. 180), die er als «verallgemeinerte Andere» (Mead, 1934/1975, S. 194–198) internalisiert hat, daraus sein eigenes Handeln plant und dieses in einem Wechselspiel mit persönlichen Stärken, Schwächen und Interessen umsetzt. Diese Sicht auf Identität betrachtet Identitätsprozesse als Handeln, das sich mit Normen auseinandersetzt, die wiederum mit Macht – als Voraussetzung für Normsetzung und
als Belohnung für Normerfüllung – verbunden sind. Sie eignet sich besonders, um die soeben formulierten Fragestellungen zu untersuchen, die ebenfalls eine interaktionale und prozessuale Perspektive verfolgen und sich thematisch in einem Kontext von Norm und Macht – nämlich Heteronormativität – abspielen.
Methodisches Vorgehen zur Erforschung lesbischer/bi Identitätsprozesse
In narrativen Einzelinterviews wurden neun junge Frauen aus der Deutschschweiz befragt. Die folgenden Samplingkriterien dienten dazu, eine eingrenzbare und vergleichbare gesellschaftlich-kulturelle Sozialisation unter den Interviewpartnerinnen abzubilden und damit die Relevanz der Ergebnisse für ein Abbild des heutigen Aufwachsens junger lesbischer/bi Frauen in der Schweiz erhöhen:
› Identifikation als lesbisch oder bi (oder ähnliche Begriffe, die eine nicht-hetero Orientierung beschreiben) sowie als Frau/weiblich
› unter 25-jährig
› seit dem 10. Lebensjahr hauptsächlich in der Schweiz aufgewachsen
› erstes äusseres Coming-out nach 2010
Die Interviewpartnerinnen wurden über Social-Media-Kanäle einer queeren Jugendgruppe, Jugendarbeitende einer Arbeitsgruppe der offenen Kinder- und Jugendarbeit wie auch über arbeitsbezogene Kontakte des Autors auf die Studie aufmerksam. Die Interviewpartnerinnen waren zwischen 15–25 Jahren alt, einige lebten in einem Dorf, andere in einer Agglomerationsgemeinde und einige in einer Stadt. Die meisten Interviewpartnerinnen besuchten das Gymnasium oder eine Fachmittelschule. Die Interviews fanden im Frühling 2021 und im Winter 2021/2022 an der Hochschule oder bei den Interviewpartnerinnen zuhause statt.
Die Erhebungs- und Analysemethoden wurden in Übereinstimmung mit dem theoretischen Rahmen des Symbolischen Interaktionismus und dem Prozessaspekt der Fragestellung gewählt: Das narrative Interview (Schütze, 1983) stellt die Perspektive der Interviewpartnerinnen ins Zentrum und dient dazu, Handeln, Prozesse und Kontexte zu ergründen. Es wurde mit der Frage nach der Lebensgeschichte bis zum heutigen Umgang mit dem lesbisch/bi Sein eingeleitet. Damit konnte eine biografische Erzählung mit Fokus auf das interessierende Hauptthema evoziert werden. Die Themenblöcke für immanente Anschlussfragen und exmanente Fragen ergaben sich aus den Fragestellungen und bezogen sich auf den Prozess des Feststellens des lesbisch/bi Seins, den Umgang damit (persönlich und in verschiedenen sozialen Kontexten), persönliche und soziale Ressourcen, Fragen rund um queere Gemeinschaft, Scham,
Normabweichung oder Identitätsrelevanz. Die Datenauswertung stützte sich auf Grounded Theory-Ansätze (Corbin & Strauss, 1990; Charmaz, 2014; Clarke, 2005/2012), insbesondere diejenigen von Charmaz, die eine ausgeprägte Prozess- und Handlungsperspektive aufweisen und deren Methoden und Techniken die Entwicklung verstehender Modelle unterstützen.
Identitätsprozesse lesbischer/bi Frauen
Das aus der Analyse der Interviewdaten entwickelte Modell (Abb. 1) beschreibt das in der Fragestellung aufgeworfene Interesse nach den Bedingungen und Einflussfaktoren der Identitätsprozesse junger lesbischer/bi Frauen in der Deutschschweiz und deren Umgang mit ihrer lesbischen/bi Identität resp. deren Handeln in diesen Prozessen. Lesbische/bi Identitätsprozesse können als Tanz zwischen Heteronormativität und lesbischem/bi Selbstbewusstsein beschrieben werden. Das Bild des Tanzes (wie auch der Helligkeitsverlauf im Modell) verweist auf einen dynamischen Prozess, in dessen Verlauf die Interviewpartnerinnen nicht einen linearen Weg von Heteronormativität zu lesbischem/bi Selbstbewusstsein zurücklegten, sondern der einem Bewegen auf offenem Feld gleicht. Nichtsdestotrotz hat dieses Feld zwei – zwar nicht klar abgrenzbare, aber doch unterscheidbare – Bereiche, zwischen denen dieser Tanz stattfindet, wobei die interviewten lesbischen/bi Frauen sich in diesem Tanz des Identitätsprozesses in zahlreichen Zwischen-, Hin- und Her- Schritten zunehmend vom heteronormativen Bereich in denjenigen resp. zu demjenigen des lesbischen/bi Selbstbewusstseins bewegten. Dabei wandten sie vielfältige Strategien (oder Tanzstile) an und trafen auf verschiedene Bedingungen. Diese Strategien standen in verschiedenen Lebensphasen und -kontexten unterschiedlich stark im Fokus oder im Hintergrund, wurden jedoch nie komplett hinter sich gelassen.
Der Begriff Identitätsprozess beschreibt somit nicht etwas, das abgeschlossen ist oder in Zukunft abgeschlossen sein wird und muss, sondern verweist auf die Dynamik und Bewegung, die in den dargestellten Themenfeldern liegt: Die Interviewpartnerinnen konnten sich – individuell unterschiedlich, in unterschiedlichem Ausmass und in unterschiedlicher Intensität – immer wieder in verschiedenen dieser Themenfelder und Strategien bewegen. Bei den geschilderten Identitätsprozessen handelt es sich denn auch nicht um ein komplettes Verlassen der Heteronormativität, um danach absolutes lesbisches/bi Selbstbewusstsein zu erlangen – Heteronormativität blieb als Norm bestehen, wodurch die Interviewpartnerinnen sich weiterhin mit ihr auseinandersetzen mussten.
Den Bedingungen der Heteronormativität …
Die Heteronormativität stellte sich in der Datenanalyse als Ausgangspunkt für die Betrachtung lesbischer/bi Identitätsprozesse heraus (schwarze Rechtecke oben links in Abb. 1), da sie als Norm die Deutungshoheit über Geschlecht inne hat. Sie entfaltete ihre Wirkung in sozialen Interaktionen und menschlichem, insbesondere sprachlichem Handeln auf drei Arten: Erstens in Form normativer Erwartungen, die hetero und cis Sein als einzig richtige Lebensform und Identität darstellten, Geschlecht dabei biologistisch und binär auffassten und Männer hierarchisch über Frauen positionierten. Eine zentrale Erfahrung für die Interviewpartnerinnen war also die Dominanz hetero-cis-männlicher Normen und (Vor)Bilder in ihrer Sozialisation und in ihrem Alltagserleben. Die Interviewpartnerinnen erlebten diese Normen bisweilen als Anpassungsdruck und mussten sich dazu zu positionieren. Dieser Anpassungsdruck und die alltägliche Reproduktion der Normen erschwerten es den Interviewpartnerinnen, ihre lesbische/bi Identität zu erkennen, da diese damit als Abweichung, weniger denkbar und nicht möglich dargestellt wurde, sodass sie sogar tatsächlich erlebte lesbische/bi Anziehung zeitweise nicht erkannten oder diese von ihrem Umfeld nicht anerkannt und ernst genommen wurde:
Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass ich auch eine Sexualität haben könnte, wo nichts mit Männern zu tun hat, weil mir halt als Kind immer erzählt wurde, ja irgendwann kommst du dann heim von der Schule und findest diesen und jenen Buben total herzig oder irgendwas, und wenn du dann mal einen Mann hast. (Anna, 16)
Heteronormativität zeigte sich in den Erzählungen der Interviewpartnerinnen zweitens in Abwertung und Gewalt als Reaktion auf Normabweichungen. Diese Abwertung konnte analytisch in indirekt-allgemein und direkt-persönlich erlebte Formen unterteilt werden, wobei die Abgrenzung nicht immer trennscharf zu ziehen war und es Mischformen gab. Indirekte Abwertung erlebten die Interviewpartnerinnen dadurch, dass sich ihr Umfeld negativ über queere Menschen äusserte oder queerfeindliche Schimpfwörter benutzte. Insbesondere das Schulklima wurde in den Interviews häufig als queerfeindlich beschrieben. Deutliche Formen direkter Abwertung waren para-, non- und verbale Bekundungen von Missfallen gegenüber ihrer lesbischen/bi Identität, welche die Interviewpartnerinnen durch ihr Umfeld erlebten. Sowohl indirekte wie auch direkte Abwertung wiesen eine grosse Spannbreite von einem unterschwelligen «Nicht-sympathisch-Finden» bis hin zu Ausschluss aus bestimmten sozialen Kontexten (z.B. Kirche) oder Androhungen von Gewalt auf. Dazu kam tatsächlich erlebte Gewalt wie beispielsweise sexualisierte Belästigung durch Männer oder religiöse Konversionsmisshandlungen. Besonders der öffentliche Raum (inkl. Schule und Nachtleben/Ausgang) war für die Interviewpartnerinnen mit Erlebnissen von Diskriminierung sowie sexualisierter Gewalt und Belästigung verbunden.
Die normativen Erwartungen der Heteronormativität konnten ihre Wirkung schliesslich drittens nur in Kombination mit queerer Unsichtbarkeit entfalten, da queere Sichtbarkeit die Norm infrage stellt. Oftmals kannten die Interviewpartnerinnen queer Sein für lange Zeit höchstens in Zusammenhang mit Abwertung. Gleichwertige Darstellungen oder positive Bilder über queer Sein sahen sie selten, und queere Menschen waren ihnen häufig nicht persönlich bekannt:
Ich habe nicht jemanden gekannt, wo schwul oder lesbisch gewesen ist. … Erst seit der Pride von diesem Jahr habe ich erstmals ein lesbisches Pärchen gesehen, vorher noch nie. (Ella, 17)
Die Unsichtbarkeit bezog sich auch auf fehlende Informationen über queer Sein und über Begriffe, um queere Identitäten und Gefühle zu benennen. Die Interviewpartnerinnen brachten bestimmte Kontexte besonders mit der Unsichtbarkeit queerer Menschen in Verbindung, insbesondere Religion, das Aufwachsen auf dem Land resp. im Dorf sowie die Schule. Queere Unsichtbarkeit war nicht nur eine Abwesenheit von queeren Menschen, Lebensentwürfen und Informationen, sondern wurde auch immer wieder aktiv hergestellt,
um aufkommende Sichtbarkeit (z.B. bei einem Coming-out) zurückzudrängen und damit die Heteronormativität – zumindest teilweise und versuchsweise – aufrecht zu erhalten. Dies geschah hauptsächlich dadurch, dass das lesbisch/bi Sein der Interviewpartnerinnen von ihrem Umfeld nicht ernst genommen oder tabuisiert wurde. Queere Unsichtbarkeit bewirkte bei den Interviewpartnerinnen ein Gefühl der Einsamkeit, des Alleinseins und von fehlender Zugehörigkeit.
Die geschilderten Wirkmechanismen der Heteronormativität wurden analytisch ergänzt durch zwei weitere Kategorien: Erstens die immense Durchschlagskraft und Dominanz der Heteronormativität, die sich in den Erzählungen der Interviewpartnerinnen darin zeigten, dass sie von queeren Menschen internalisiert wurden und somit bis in queere Gemeinschaften hineinwirkten sowie darin, dass sie mit anderen Unterdrückungsformen interagierten. Charakteristika der Heteronormativität waren demnach auch in queeren Gemeinschaften zu finden, wie beispielsweise die grössere Sichtbarkeit und positivere mediale Präsenz von schwulen und lesbischen im Vergleich zu trans Menschen, sowie cisnormative Haltungen, die die Grundannahme der Heteronormativität stützten: die angeblich natürliche, biologische, körperliche Grundlage von Geschlecht und von sexueller/romantischer Orientierung. Dass Heteronormativität mit anderen Unterdrückungsformen wie Rassismus, Sexismus und Klassismus in Verbindung steht und somit als intersektionaler Wirkmechanismus bezeichnet werden kann, zeigte sich darin, dass die Interviewpartnerinnen diese Unterdrückungsformen oft in einem Atemzug nannten und darin ähnliche Muster feststellten. Zuweilen griffen sie hingegen selbst auf – insbesondere rassistische – Stereotypisierungen zurück, indem sie bei migrantischen, rassifizierten und als kulturell anders wahrgenommenen Menschen sowie bei solchen mit tiefem sozioökonomischem Status eine geringere Akzeptanz für ihr lesbisch/bi Sein vermuteten und diese Vermutung in entsprechenden persönlichen Erlebnissen bestätigt sahen.
Die Definitionsmacht der Heteronormativität wurde zweitens dadurch verschleiert, dass insbesondere hetero cis Menschen die soeben geschilderten Wirkmechanismen der Heteronormativität leugneten und eine Gleichwertigkeit von heteronormativen und queeren Lebensweisen und Menschen behaupteten. Weiter, indem sie eine Gleichbehandlung der Interviewpartnerinnen mit hetero cis Menschen als nicht-Anwendung der Norm und entgegenkommende Güte zelebrierten. Dadurch wird Norm naturalisiert und ihre Macht unsichtbar gemacht, was analytisch als Machtignoranz beschrieben werden kann. Dies äusserte sich insbesondere in Form von Veranderung (othering): Die Selbstverständlichkeit der Norm berechtigte in dieser Sichtweise insbesondere hetero
cis Menschen dazu, die Interviewpartnerinnen mit ihrer Abweichung von der Norm zu konfrontieren, von ihnen eine Stellungnahme und Erklärung zu fordern sowie die Abweichung zu bewerten. Damit verbunden war auch die Erwartung, dass die Interviewpartnerinnen sich outen müssen und sollen, um Sichtbarkeit zu erlangen und in ihrem lesbisch/bi Sein anerkannt zu werden – sich nicht zu outen würde also bedeuten, legitimerweise als hetero wahrgenommen zu werden, womit Heterosexualität/-romantik den Standard oder eben die unhinterfragte Norm bildet:
Es [lesbisch/bi Sein] wird irgendwie nie als Option angeschaut, bis du es nicht explizit sagst. (Anna, 16)
… mit Handlungsstrategien begegnen …
Die Interviewpartnerinnen begegneten diesen Bedingungen der Heteronormativität mit verschiedenen Handlungsstrategien (graue Ellipsen in Abb. 1), um ihr lesbisch/bi Sein, also ihre Abweichung von der Heteronormativität, zu gestalten. Die verschiedenen Strategien standen im Lebensverlauf und in verschiedenen sozialen Kontexten unterschiedlich im Fokus und wurden somit auch immer wieder neu angewandt, wobei nicht alle Interviewpartnerinnen auf alle diese Strategien zurückgriffen. Strategien sind dabei als Handlungen zu verstehen, die nicht immer bewusst und gezielt eingesetzt wurden.
Die heteronormativen Erwartungen und die eigene Abweichung davon erforderten von den Interviewpartnerinnen eine Positionierung in diesem Spannungsfeld – sowohl sich selbst wie auch dem Umfeld gegenüber. Diese Positionierungen stellten somit eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Heteronormativität und eigenen, dazu (teilweise) konträren Bedürfnissen der Interviewpartnerinnen dar. Dies konnte Zweifel und Verunsicherung über ihre sexuelle/romantische Orientierung beinhalten, ausgelöst durch ein zunehmendes Erkennen, dass diese von der Heteronormativität abwich, verbunden mit diesbezüglichen Befürchtungen, beispielsweise von Ablehnung. Eine Strategie der Anpassung waren Versuche, die Heteronormativität zu erfüllen, indem die Interviewpartnerinnen beispielsweise Geschlechterrollennormen gelebt, hetero Beziehungen gesucht resp. versucht hatten, die Erfüllung von cis-Körpernormen angestrebt oder sich an Ehe und Hochzeit als Ziel orientiert hatten.
Schutzstrategien zeigten sich in den Interviewerzählungen insbesondere als Reaktion auf erlebte oder befürchtete Abwertung und Gewalt, wobei die Interviewpartnerinnen vornehmlich verschiedene Formen des Versteckens des lesbisch/bi Seins eingesetzt oder versucht hatten, queere Themen generell zu vermeiden.
Weiter gestalteten die Interviewpartnerinnen Coming-outs mitunter bewusst – gerade auch mit Blick auf ihre Sicherheit, da sie oft Ablehnung befürchteten. Beispielsweise überlegten sie sich genau, bei wem sie sich zuerst outeten, oder sondierten die Haltung des Gegenübers, indem sie queere Themen allgemein, ohne persönlichen Bezug, aufbrachten. Eine verbreitete und oft als einfacher empfundene Coming-out-Strategie als ein direktes Coming-out als lesbisch/bi war, eine Beziehung oder eine Verabredung mit einer anderen Frau oder ein Verliebtsein in eine andere Frau zu benennen oder zu zeigen:
Ich habe mich nie bei ihnen geoutet. Es ist mehr so, keine Ahnung, ich habe halt eine Freundin und das ist irgendwie, irgendwie einfach irgendwann klar gewesen. (Fiona, 16)
Selbstvergewisserungsstrategien dienten den Interviewpartnerinnen dazu, ihre lesbische/bi Identität zu festigen, biografisch einzuordnen sowie Zughörigkeit zu queeren Gemeinschaften und Menschen herzustellen: Selbstakzeptanz als lesbisch/bi betraf nicht nur die aktuelle Selbstidentifikation, sondern umfasste oft eine retrospektive Selbstbeschreibung als «schon immer lesbisch/ bi gewesen». Diese Form der Selbstvergewisserung war darum wichtig, weil die – auch von den Interviewpartnerinnen internalisierte – Heteronormativität eine «natürliche» und «ursprüngliche» Heterosexualität/-romantik postuliert (s. Veranderung oben). Mit der retrospektiven Suche nach Anzeichen oder Äusserungen des schon immer vorhanden gewesenen lesbisch/bi Seins, oder einfach einer entsprechenden Selbstbeschreibung, konnten die Interviewpartnerinnen dieses frühere hetero Fremdbild – und oft auch Selbstbild – korrigieren. Ausserdem setzten die Interviewpartnerinnen lesbische/bi Stereotypen (z.B. Symbole, Verhaltens- und Sprechweisen, äusseres Erscheinungsbild) zur Selbstvergewisserung des lesbisch/bi Seins ein. Stereotypen dienten so als Unterstreichung, Bestätigung und Verfestigung des lesbisch/bi Seins sich selbst und anderen Menschen gegenüber.
Ähnliche Funktionen erfüllte die Strategie, lesbisch/bi Sein als Befreiung von und Subversion der Heteronormativität zu (er)leben, indem die Interviewpartnerinnen die Heteronormativität deutlich ablehnten und zurückwiesen sowie eine grundlegende Selbstakzeptanz in ihrem lesbisch/bi Sein an den Tag legten. Die Umkehr der Bewertung von «ich bin falsch» zu «die Normen sind falsch» waren dabei das zentrale Moment:
Nein, [das lesbisch/bi Sein] kann ich nicht ändern, aber das muss ich auch nicht. Und es ist okay, diesen [heteronormativen] Erwartungen nicht zu entsprechen, weil eben:
Die Erwartungen sind fehlerhaft und nicht die Identität, wo nicht in die Erwartungen passen. (Anna, 16)
Dies konnte bei den Interviewpartnerinnen zu einer grundlegenden Kritik an der Heteronormativität als Ganzes führen, also auch der Normen der binären Geschlechterrollen und der männlichen Dominanz, wie auch zur Erkenntnis von deren Konstruiertheit und damit Veränderbarkeit.
Eng damit verbunden war die Strategie des Identitätsstolzes. Dies
konnte sich beispielsweise darin äussern, dass die Interviewpartnerinnen ein Verlangen verspürten, sich zu outen, offen und gerne über queere Themen oder ihre lesbische/bi Beziehung sprachen, sich stark mit queeren Themen beschäftigten und sich darüber informierten, oder dass das lesbisch/bi Sein einen grossen Stellenwert in ihrer Persönlichkeit einnahm. Ausserdem zeigte sich Identitätsstolz im Wunsch der Interviewpartnerinnen, von anderen Menschen als lesbisch/bi gesehen und wahrgenommen zu werden, sowie entsprechenden Handlungen, beispielsweise einer offen gezeigten lesbischen/bi Beziehung.
… um lesbisches/bi Selbstbewusstsein zu erfahren
Der Modellteil des lesbischen/bi Selbstbewusstseins (weisse Rechtecke unten rechts in Abb. 1) beinhaltet in der Datenanalyse identifizierte Faktoren und Bedingungen, die Interviewpartnerinnen unterstützten, ihr lesbisch/bi Sein zu akzeptieren und zu leben. Dafür waren Räume wichtig, in denen lesbisch/ bi Sein ermöglicht sowie erlebbar wurde. Dazu gehörten für die Interviewpartnerinnen lesbisches/bi Verlieben sowie lesbische/bi Liebesbeziehungen und sexuelle Erfahrungen. Diese Erlebnisse werden im Modell als Gefühlsräume bezeichnet und dienten den Interviewpartnerinnen insbesondere der Selbstvergewisserung, lesbisch/bi zu sein. Die Interviewpartnerinnen berichteten oft davon, dass sie ihr lesbisch/bi Sein durch ein Verlieben in eine andere Frau erkannt und solch starke Gefühle noch nie empfunden hatten. Diesen Beschreibungen der Interviewpartnerinnen folgte oft unmittelbar ein Vergleich mit ihrer weniger starken oder nicht vorhandenen Anziehung zu Männern – was damit zugleich eine Positionierungsstrategie (s. oben) im Sinne einer Abgrenzung von der Heteronormativität war. Diese Gefühle, die sich für die Interviewpartnerinnen gut und passend anfühlten, waren Momente des Erkennens ihres lesbisch/ bi Seins und eine Selbstvergewisserung, dass sie richtig seien:
Ich habe mir dann nicht mehr so schöne, ehm romantische Momente mit einem Typen vorgestellt. Dann habe ich mir eigentlich immer alles mit ihr [Corines Freundin] vorgestellt und ich habe mir vorgestellt, wie schön es wäre, einfach
jetzt mit einer Frau kuscheln oder was heisst das, wenn ich mal eine Frau küsse oder so Sachen und ja. Und dann ist plötzlich meine ganze Welt farbig geworden [Lachen]. (Corine, 16)
Die Kategorie der Ermöglichungsräume beschreibt soziale Kontexte, in denen lesbisch/bi Sein für die Interviewpartnerinnen denkbar und lebbar wurde. Ermöglichungsräume waren oft mit Ortswechseln und Veränderungen im sozialen Umfeld verbunden, die teilweise biografisch vorgegeben resp. vorgesehen waren, wie beispielsweise der Übertritt in die Sekundarstufe II. Weitere Ermöglichungsräume waren Ferien, Auszeiten, Umzüge oder Eintritte in neue soziale Gruppen. Sie waren dann und darum Ermöglichungsräume für das Entdecken und Leben des lesbisch/bi Seins, wenn und weil sie mehr Sichtbarkeit queerer Lebensweisen und Menschen beinhalteten, Raum für Selbstreflexion und das Zulassen lesbischer/bi Gefühle boten und den Interviewpartnerinnen die Chance eröffneten, sich in diesem neuen sozialen Kontext anders, als lesbisch/ bi, zu präsentieren und damit alte Selbst- und Fremdbilder hinter sich zu lassen:
Und dann halt ins Gymi gekommen. Einfach so wow, so viel Diversität in einer Schule schon mal. Und dann recht schnell, irgendwie so im ersten Semester, habe ich einen ganz heftigen crush auf ein Mädchen aus meiner Klasse entwickelt. (Anna, 16)
Auch ein von Akzeptanz und Offenheit geprägtes soziales Umfeld oder eine gesellschaftliche und rechtliche Öffnung konnten solche Ermöglichungsräume sein. Von elementarer Bedeutung beim Entdecken des eigenen lesbisch/bi Seins war für die Interviewpartnerinnen zudem queere Sichtbarkeit. Dies umfasste gleichwertige Darstellungen von queeren und hetero cis Lebensweisen (z.B. im Schulunterricht), andere queere Menschen zu kennen sowie queere Vorbilder und Veranstaltungen:
Dann hat es ehm in einer Parallelklasse eine gegeben, wo, wo mit einer Frau zusammen gewesen ist. Und dann habe ich mal eh irgendwie durch sie ein bisschen mehr angefangen überlegen. (Beatrice, 17)
Sich selbst, die eigenen Gedanken und Gefühle repräsentiert zu sehen und Worte dafür zu haben, trug entscheidend zur lesbischen/bi Selbstfindung der Interviewpartnerinnen bei. Wenn die Interviewpartnerinnen erlebten, dass ihr lesbisch/bi Sein vom Umfeld als gleichwertige sexuelle/romantische Orientierung wie hetero Sein angenommen wurde, sie sich selbst sein konnten und sich
nicht erklären mussten, trug dies ebenfalls zu lesbischem/bi Selbstbewusstsein und zu einer Stärkung der Selbstakzeptanz bei. Das Erleben von Gleichwertigkeit zeigte sich beispielsweise darin, dass das Gegenüber positiv auf ein Coming-out der Interviewpartnerinnen reagierte:
Dann habe ich mich so quasi auch vor der ganzen Klasse geoutet. Und das habe ich ehm, habe ich als mega schön empfunden, weil alle haben, sie haben sich mega gefreut für mich. (Daniela, 24)
Auch ein von den Interviewpartnerinnen häufig als «normal» beschriebener Umgang des Umfelds mit ihrem lesbisch/bi Sein wurde von ihnen positiv erlebt. Mit «Normalität» meinten sie, dass das Gegenüber auf ihre lesbische/bi Beziehung gleich reagierte wie auf eine hetero Beziehung, beispielsweise durch interessiertes Nachfragen. Um den besonderen Bedürfnissen und zusätzlichen Herausforderungen lesbischer/bi Frauen zu begegnen, wünschten sich die Interviewpartnerinnen teilweise spezifische Gesprächs- und Unterstützungsangebote, insbesondere von Fachpersonen.
Da eine Abweichung von der Heteronormativität für die Interviewpartnerinnen mit Ausschlusserfahrungen und also mit verminderter oder verweigerter Zugehörigkeit einherging, waren queere Gemeinschaften eine Möglichkeit, neue Zugehörigkeit zu erlangen. Zu queerer Zugehörigkeit gehörten insbesondere aktiv gesuchte und gepflegte Freund*innenschaften der Interviewpartnerinnen mit anderen queeren Menschen. Diese Freundeskreise und Gemeinschaften waren geprägt durch eine besondere Nähe und Tiefe aufgrund geteilter Erfahrungen sowie dadurch, dass Themen, die vielfach nirgends sonst besprochen werden konnten, dort einen Resonanzraum hatten, was sie oft zu besonders vertrauten und vergleichsweise sicheren Räumen machte:
Wo ich an der Pride gewesen bin, habe ich das erste Mal so richtig ein anderes Erlebnis gehabt. Diese ganze Community, und ich habe so viele Leute getroffen und gesehen und ich habe mich voll wohl gefühlt und ich bin so glücklich gewesen. Ich so wow, wo bin ich. … Wirklich der schönste Tag, wo ich gehabt habe. Und dann bin ich einfach so voll glücklich gewesen. (Corine, 16)
Nebst den bisher beschriebenen Faktoren, die Identitätsprozesse der interviewten lesbischen/bi Frauen ausmachten, konnten in der Datenanalyse zwei weitere Faktoren (schraffierte/s Ellipse und Rechteck in Abb. 1) identifiziert werden, die etwas allgemeinerer Art sind. Sie standen jedoch mit Identitäts prozessen bezüglich der sexuellen/romantischen Orientierung in Verbindung und stellten sich diesbezüglich in den Interviews mit den lesbischen/bi Frauen als bedeutsam heraus.
Die Relevanz von Zugehörigkeit zeigte sich darin, dass die Interviewpartnerinnen das Fehlen von (engen) Freund*innenschaften als leidvolle Erfahrung erlebten, die durch aktive Bemühungen darum, Freund*innen zu finden, zu beheben versucht wurde. Weiter gehörte dazu, dass die Interviewpartnerinnen Anerkennung von anderen Menschen suchten und sich dafür beispielsweise an den dominierenden Kleidungsstil an einer Schule anpassten. Zudem erlebten sie das Bestehen und Pflegen enger positiver Beziehungen zu Familienmitgliedern oder ein Gemeinschaftserleben, beispielsweise in Schule oder Nachbar*innenschaft, positiv. Herausforderungen gemeinsam mit Menschen zu meistern, die den Interviewpartnerinnen wichtig und nahe waren, konnte ebenfalls Zugehörigkeit herstellen, beinhaltete jedoch auch den zweiten allgemeinen Faktor, nämlich Agency.
Der Begriff der Agency beschreibt Situationen, in denen sich die Interviewpartnerinnen als selbstwirksames Handlungssubjekt erlebten, wobei die sozialen (Macht)Bedingungen in diesen Handlungssituationen berücksichtigt wurden (Scherr, 2013). Insbesondere die Strategien des Identitätsstolzes konnten analytisch als agencyrelevantes Handeln identifiziert werden, wie beispielsweise, sich bei Queerfeindlichkeit zur Wehr zu setzen. Auch die Gestaltung von Coming-outs bildete Agency aus. Die Abweichung von der Heteronormativität kann als biografischen Bruch mit heteronormativen Erwartungen bezeichnet werden, der jedoch von den Interviewpartnerinnen mit Strategien der Selbstvergewisserung und der Normbefreiung und -subversion aufgefangen wurde, was ebenfalls agencyrelevantes Handeln darstellte. Dieser Bruch in ein Leben vor und nach dem Coming-out konnte beispielsweise in den Ermöglichungsräumen (s. oben) gefunden werden. Die Interviewpartnerinnen erlebten jedoch auch in Lebenssituationen ausserhalb ihres lesbisch/bi Seins Agency. Beispiele dafür waren, aus dem Elternhaus auszuziehen, eine Ausbildung abzuschliessen oder abzubrechen, eine Krankheit zu überwinden, sich bei Abwertung (z. B. body shaming) zur Wehr zu setzen, politisch etwas zu bewirken oder eigenen Interessen nachzugehen (z.B. Freizeit). Solche Erlebnisse von selbstwirksamem Handeln trotz allfälligen Widerständen förderten die Resilienz und erweiterten die Copingstrategien der Interviewpartnerinnen. Sie standen ausserdem in Zusammenhang mit sozialer Unterstützung und Zugehörigkeit, also dass andere Menschen den Interviewpartnerinnen in diesen Situationen zur Seite gestanden waren. Agency und soziale Zugehörigkeit wirkten sich denn auch situationsübergreifend, also auch bezüglich der lesbischen/bi Identitätsprozesse, bestärkend aus.
Identitätsprozesse junger lesbischer/bi Frauen theoretisch in Bezug setzen
Auf den theoretischen Rahmen des Symbolischen Interaktionismus verweisend kann zusammenfassend gesagt werden, dass Identität im Wechselspiel zwischen der Internalisierung kommunikativ-handelnd übermittelter und antizipierter Haltungen anderer Menschen und den eigenen Bedürfnissen und Eigenschaften entsteht (Blumer, 1969; Goffman, 1963/2018; Mead, 1934/1975). In Bezug auf eine lesbische / bi sexuelle / romantische Orientierung als Teilaspekt von Geschlecht sind diese verallgemeinerten Haltungen massgeblich von der Heteronormativität geprägt (Butler, 1990/2003; Hartmann & Klesse, 2007). Dieses theoretisch gezeichnete Bild spiegelte sich in den empirischen Erfahrungen lesbischer/bi Frauen in der vorliegenden Studie wider: Das Wechselspiel zwischen sozialer und persönlicher Identität und die daraus entstehende Ich-Identität (Goffman, 1963/2018) erwies sich vorliegend als Tanz zwischen Heteronormativität und lesbischem/bi Selbstbewusstsein. Die von stigmatisierten Menschen erlebte Ambivalenz zwischen Selbstverachtung und -akzeptanz (Goffman, 1963/2018) zeigte sich in der Positionierung zwischen Abgrenzung von der und Anpassung an die Heteronormativität oder in Schutzstrategien wie dem Verstecken, das zudem eine Technik der Informationskontrolle (Goffman, 1963/2018) darstellte. Diese Strategien waren zentrale Bestandteile lesbischer/bi Identitätsprozesse der Interviewpartnerinnen und wurden auch andernorts beschrieben (Brodersen, 2018; Karich, 2003; Krell & Oldemeier, 2017; Zuehlke, 2004).
Homonormativität
In der Strategie der Positionierung zwischen Abgrenzung und Anpassung kam das Abwägen zwischen den heteronormativen Erwartungen und lesbischem/ bi Selbstbewusstsein besonders stark zum Ausdruck – oder anders gesagt: der Tanz war besonders bewegungsintensiv. Auch Woltersdorff (2005) weist, unter
Bezugnahme auf Judith Butler, darauf hin, dass Coming-outs keine «totale Befreiung» (S. 172) seien, sondern «vielmehr … eine Dialektik aus Auflehnung und Anpassung» (S. 172). Die Anpassung strebt – in und trotz ihrer grundsätzlichen, aber in der Regel nicht allumfassenden Abweichung von der Heteronormativität – eine grösstmögliche Übereinstimmung mit dieser an. Dies wird auch als Homonormativität bezeichnet (Duggan, 2002; in Bezug auf Transnormativität: Bradford & Syed, 2019) und von Goffman (1963/2018) als Technik des Kuvrierens beschrieben:
Es ist die Tatsache, daß Personen, die bereitwillig den Besitz eines Stigmas zugeben … sich nichtsdestoweniger sehr bemühen können zu verhindern, daß das Stigma sich zu mächtig aufdrängt. (S. 129)
Soziale Akzeptanz erfuhren daher insbesondere diejenigen Interviewpartnerinnen, die sich möglichst nahe an der Heteronormativität bewegten. Dies zeigt sich beispielsweise in der verbreiteten Coming-out-Strategie, sich anhand einer Beziehung mit einer anderen Frau zu outen: Die Interviewpartnerinnen erwarteten und erlebten eine grössere Akzeptanz, wenn sich ihr lesbisch/bi Sein innerhalb der Amatonormativität abspielte, was ebenfalls von anderen Autor*innen gefunden wurde (Brodersen, 2018; Krell & Oldemeier, 2017). Auch die grosse Bedeutung von Verliebtsein und romantischen Beziehungen für die Entdeckung und Festigung der lesbischen/bi Identität (Kategorie der Gefühlsräume) spricht für diesen Zusammenhang, wie auch die zentrale Bedeutung des Konzepts Liebe bei der Selbstvergewisserung und der Akzeptanz des Umfelds, indem eine Selbstverortung und -bezeichnung als lesbisch/bi offenbar nicht auszureichen schien, sondern «Beweise» in Form von entsprechenden Handlungen und Gefühlsäusserungen für eine bestimmte Person vonnöten waren.
Homonormative Anpassungen an die Heteronormativität waren in den Ergebnissen weiter in den unter der Kategorie der «Durchschlagskraft» beschriebenen queeren Sichtbarkeitshierarchien wiederzufinden, die schwule cis Männer über alle anderen queeren Menschen und Homosexualität/-romantik über Transidentität und Bisexualität/-romantik stellten. Weiter können naturalisierende Begründungen für sexuelle/romantische Orientierung (born this way; s. Selbstvergewisserungsstrategien oben) als homonormative Anpassung an die Heteronormativität beschrieben werden, da dies in Einklang mit deren biologistischen Grundannahmen steht (Butler, 1990/2003). Diese homonormativen Reproduktionen der Heteronormativität in vielen queeren Gemeinschaften könnten auch eine Erklärung dafür sein, dass Homosexualität/-romantik von allen Abweichungen von der Heteronormativität die grösste Akzeptanz erfährt: Sie lässt sich mit den biologistischen und binären Grundzügen und -voraussetzungen der Heteronormativität vereinbaren und stellt sie damit lediglich in ihrem Teilaspekt der heterosexuellen/-romantischen Anziehung in Frage. Krell und Oldemeier (2017) haben diese unterschiedliche Stigmatisierung von Abweichungen in ihrer empirischen Studie ebenfalls gefunden:
Die strukturierende heteronormative Erwartung an eine cisgeschlechtliche, binäre Zugehörigkeit wirkt noch stärker und erzeugt einen noch höheren Leidensdruck, als die Vorannahme einer heterosexuellen Entwicklung. (S. 194)
«Lediglich» lesbisch/bi zu sein (und dies als natürliche Veranlagung zu rahmen und in einer monogamen Zweierbeziehung zu leben) ist also weniger stark
sozial sanktioniert, als trans/nonbinär zu sein und damit die angebliche Natürlichkeit von Geschlecht – und damit auch sexueller/romantischer Orientierung – in Frage zu stellen.
Intersektionalität
Winker und Degele (2009) «begreifen Intersektionalität als kontextspezifische, gegenstandsbezogene und an sozialen Praxen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (d. h. von Herrschaftsverhältnissen), symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen» (S. 15). Diejenige intersektionale Betroffenheit lesbischer/bi Frauen, die bereits im Begriff lesbische/bi Frauen enthalten ist, ist ihre Homo-/Bisexualität/-romantik sowie ihr Frau/weiblich und gegebenenfalls ihr trans Sein. Hierbei spielt die Auseinandersetzung mit und Positionierung zu «patriarchaler Weiblichkeit» (Hoskin, 2013), also den heteronormativen Weiblichkeitsnormen, von denen lesbische/bi Frauen (teilweise) abweichen, eine Rolle. Heteronormative Weiblichkeitsnormen waren in Erwartungen an die Interviewpartnerinnen als Frau (Geschlechterrollenerwartungen) zu finden. Weiter in Erfahrungen sexualisierter Gewalt und dem Nicht-ernst-genommen-Werden in ihrer lesbischen/ bi Identität, indem hetero cis Männer ihre eigene Abwesenheit oder verminderte Macht in den Leben(sentwürfen) der Interviewpartnerinnen problematisierten und indirekt oder direkt als Legitimation für übergriffiges Verhalten anführten. Patriarchale Weiblichkeit zeigte sich bei den interviewten bi Frauen überdies dann, wenn sie zwar ihre Anziehung zu Männern wahrnahmen, diejenige zu Frauen jedoch nicht. Ausserdem zeigte sie sich, wenn die Interviewpartnerinnen sich Gedanken dazu machten, ob sie, entgegen ihrem eigenen ästhetischen Stilempfinden, lesbische/bi Stereotypen erfüllen sollten, um Sichtbarkeit zu erlangen.
Wie alle Menschen haben auch lesbische/bi Frauen stets weitere Eigen schaften, die ihre Persönlichkeit ausmachen und weitere Bedingungen, die ihr Leben prägen. Die lesbische/bi Identität muss daher mit anderen Identitätsfacetten in Einklang gebracht werden. Die Interviewpartnerinnen mussten sich beispielsweise damit auseinandersetzen, was lesbisch/bi Sein als trans Frau, als Frau mit einer psychischen Beeinträchtigung oder mit einem mehrgewichtigen Körper bedeutete und wie sich diese Aspekte zueinander verhielten, wie sie Weiblichkeit und lesbische Stereotypen leben wollten oder wie sie ihre religiöse Identität mit dem lesbisch/bi Sein in Einklang bringen konnten. Dies waren herausfordernde Prozesse, die mit spezifischen Hürden und Spannungsfeldern verbunden waren, da beispielsweise Religiosität in vielen queeren
Gemeinschaften mit Skepsis begegnet wird, gleichzeitig aber eine akzeptierte Zugehörigkeit zu vielen religiösen Gemeinschaften als geoutete lesbische/bi Frau nicht mehr möglich war.
Chancen, Limitationen und Ausblick
Die vorliegende Studie reiht sich ein in das breite, aber unterschiedlich dichte und tiefe Forschungsfeld zu Identitätsprozessen, Diskriminierungen und Ressourcen queerer Menschen. Einige der Bestandteile des entwickelten Modells sind gesondert bereits relativ gut erforscht: Der Bereich, der hier als Heteronormativität beschrieben wurde, ist in der Forschung über Diskriminierungserfahrungen queerer Menschen wiederzuerkennen, die Strategien in den Identitätsentwicklungs-/Identitätsprozessmodellen. Was vielfach aus dem Fokus gerät sind Bedingungen, die lesbisches/bi Selbstbewusstsein ermöglichen (Ressourcen) sowie das Zusammenspiel dieser drei Faktoren (Diskriminierung, Identitätsentwicklung, Ressourcen). Diese Studie ist ein Beitrag dazu, diese Lücken zu schliessen. Sie ist dabei als explorative Studie die erste ihrer Art für den Kontext Schweiz – einerseits bezüglich der untersuchten Gruppe der lesbischen/bi Frauen, andererseits in ihrem interaktionalen und systemischen Blick auf Identitätsprozesse – und gehört auch im deutschsprachigen Raum zu einem lediglich kleinen Kreis ähnlich gelagerter Forschung (insb. Krell & Oldemeier, 2017).
Die Interviewpartnerinnen gehören zu einem Umfeld, das in vielerlei Hinsicht eher homogen zusammengesetzt ist und die in der lesbischen/bi Gemeinschaft vorhandene Vielfalt nur ungenügend repräsentiert (nicht nur als Personen, sondern insbesondere als thematische Emergenzen in den Daten). So sind beispielsweise die Themen Behinderung, Rassifizierung und weisse Privilegien, Klasse und Armut sowie Alter eher schwach oder gar nicht vertreten. Zukünftige Forschungen tun also gut daran, eine diversifiziertere Samplingstrategie anzuwenden, die das theoretische Sampling konsequenter als hier geschehen umsetzt und intersektionale Theorien und Methoden im gesamten Forschungsprozess anwendet. Aber auch allfällige Unterschiede in Identitätsprozessen lesbischer und bi sowie cis und trans Frauen konnten aufgrund der Samplingstrategie und Samplegrösse nicht herausgearbeitet werden. Biografische Forschungszugänge könnten für das hier interessierende Forschungsfeld eine weitere Bereicherung darstellen. Mit ihnen könnten beispielsweise individuelle Zusammenhänge verschiedener Strategien oder zwischen Strategien und Bedingungen besser fokussiert, oder Typen von Identitätsprozessen gebildet werden.
Schlussfolgerungen für die Praxis Sozialer Arbeit
Wie in der Einleitung aufgezeigt, tut sich die Soziale Arbeit bisher nicht als so queerfreundlich hervor, wie es ihrem Auftrag entspräche. Die grundlegendsten Schlussfolgerungen für die Arbeit mit Adressat*innen der Sozialen Arbeit liegen in einer «Intersektionalisierung» und Individualisierung der Ergebnisse: Das Modell darf nicht dazu verleiten zu denken, man wisse nun, wie die junge lesbische/bi Frau, die als Adressatin der Sozialen Arbeit konkret Unterstützung oder Beratung in Anspruch nimmt, ihre Identitätsprozesse erlebt (hat). Es befreit nicht von der sozialarbeiterischen Pflicht, jedem Menschen mit einem wohlwollenden Interesse für seine ganz persönliche Erfahrung zu begegnen und Unterschiede in der Gruppe «der» lesbischen/bi Frauen zu ergründen, indem die jeweilige individuelle Situiertheit und weitere Ungleichheitskategorien einbezogen werden (Bronner & Paulus, 2017). Die vorliegenden Ergebnisse und das Modell können dazu dienen und Sozialarbeiter*innen darin unterstützen, die Erfahrungen lesbischer/bi Frau besser zu verstehen und sie somit sozialarbeiterisch besser zu begleiten.
Der Auftrag der Sozialen Arbeit ist es, ihre Adressat*innen darin zu unterstützen, Handlungsmacht resp. Agency wiederherzustellen oder zu entwickeln, wobei sie darauf zu achten hat, wie diese in sozialen Handlungsprozessen hergestellt wird und Machtungleichheiten berücksichtigen soll (Avenir Social, 2010; Bronner & Paulus, 2017; Scherr, 2013). Soziale Arbeit darf dabei nicht in die Falle der Individualisierung von Problemlagen tappen: Soziale Arbeit löst Probleme nachhaltig nicht dadurch, dass einzelne Individuen «repariert» werden, indem ihre Selbstwirksamkeit gefördert wird. Es geht vielmehr darum, die Handlungsmacht unterprivilegierter, diskriminierter Gruppen und Individuen aktiv zu vergrössern, und dies lässt sich nicht nur auf individueller Ebene bewerkstelligen. Handlungsmacht entsteht, indem der Heteronormativität Macht und Privilegien entzogen werden. Dies hat die Soziale Arbeit also ebenso zu leisten wie individuelle Unterstützung unter Berücksichtigung und Einbezug der persönlichen Strategien. Queeren Perspektiven und Lebensweisen muss aktiv Platz geschaffen werden – auch zu Lasten von heteronormativen.
Sozialarbeiter*innen sind dazu angehalten, sich nicht erst mit diesen Themen zu befassen, wenn lesbische/bi Frauen in ihrer Arbeit sichtbar werden, sondern jederzeit aktiv zu einem queerfreundlichen Zusammenleben beizutragen. Dazu müssen sie entsprechend ausgebildet sein und sich mit queeren Lebenswelten auseinandergesetzt haben. Es braucht zudem praxisorientierte Weiterbildungen für Sozialarbeiter*innen sowie klare queerfreundliche Haltungen und Handlungen der Organisationen und Ausbildungsstätten der Sozialen Arbeit.
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Biographische Angaben
Tobias Kuhnert, MSc Soziale Arbeit, Institut für
Public Health ZHAW, kuht@zhaw.ch