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Dieser Beitrag ist Teil des Dossiers 2024 «In gesellschaftlichen Widersprüchen.
Kontext und Geschichte der Sozialen Arbeit».
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Daniela Hörler
Zusammenfassung
Noch anfangs der 1970er Jahre wurden in Zürich jährlich über 200 Säuglinge, die meisten von ihnen mit ausländischer Staatszugehörigkeit, in städtischen Säuglingsheimen untergebracht. Der Artikel fragt nach dem Zusammenhang zwischen den vergleichsweise späten Schliessungen der Heime und der prekären Situation der sogenannten «Gastarbeiterfamilien». Anhand von Archivmaterial wird mit einer intersektionalen Perspektive die von der Stadtverwaltung und dem Heimpersonal konstruierte Konfiguration der zugewanderten Arbeiterin mit Kind analysiert. Der Beitrag zeigt, dass die städtischen Säuglingsheime von der Arbeitsmigration der frühen 1970er Jahren profitierten und mit traditionellen Betreuungsstrukturen die mehrfache Diskriminierung von zugewanderten Eltern verstärkten.
Schlüsselwörter: Säuglingsheime, Arbeitsmigration, Intersektionalität, Stadt Zürich, 1970– 1979
«Migrant, Worker and Mother». The Infant Homes of the City of Zurich and the Ambivalent Configuration Around the Families of Origin from 1970–1979
Summary
As late as the early 1970s, more than 200 infants were placed in municipal infant homes in Zurich every year, most of them of foreign nationality. The article investigates the connection between the comparatively late closures of the homes and the precarious situation of migrant workers, particularly the so-called «guest worker families». Using archival material, the configuration of the female migrant worker with child constructed by the city administration and the home staff is analyzed from an intersectional perspective. The article shows that municipal infant homes benefited from the labor migration of the early 1970s and reinforced the multiple discrimination of immigrant parents with traditional care structures.
Keywords: infant home, labor migration, intersectionality, city of Zurich, 1970–1979
1 Einleitung
Wann und wie endete die Geschichte der Säuglingsheime? Ein Blick auf die Stadt Zürich zeigt, dass die letzte dieser Einrichtungen in städtischer Trägerschaft 1979 ihre Türen schloss. Das Säuglings- und Kleinkinderheim Wildbach war damals ein noch neues Heim, das erst 1975 eingeweiht wurde. Bei der Planung des Heims 1970 waren die beiden bestehenden städtischen Säuglingsheime gut ausgelastet. So begründete der Zentralsekretär des Sozialamts den geplanten Neubau damit, dass die Stadt «einen legitimen Anspruch [habe], auch ein nach modernen Gesichtspunkten geführtes Heim zu besitzen» (HK, 8. 12. 1970, S. 9). In den folgenden Jahren nahmen allerdings die Belegungszahlen in den Säuglingsheimen kontinuierlich ab. 1974 und 1975 wurde die «Unterbelegung» so dramatisch, dass bei der Inbetriebnahme des Säuglings- und Kleinkinderheims Wildbach nicht nur das Säuglingsheim Florhof wie geplant geschlossen wurde, sondern kurz darauf auch das Säuglingsheim Ottenweg.
Die bewegte Vergangenheit der Heime für Säuglinge und Kleinkinder wurde bis anhin kaum erforscht und bleibt somit ein weitgehend unsichtbarer Teil der Geschichte der Sozialen Arbeit. Für Deutschland spricht Felix Berth gar von einer «vergessenen Institution» (Berth, 2019).1 Bettina Grubenmann und Christina Vellacott verweisen generell auf ein Desiderat zur «Geschichte der frühen Kindheit» (Grubenmann & Vellacott, 2020, S. 101).2 Im vorliegenden Beitrag stehen die einzelnen Einrichtungen als Organisationen im Fokus. Von Interesse sind darüber hinaus die verschiedenen Argumentationslinien seitens der Stadtverwaltung sowie die Sichtweise des Personals zum fortlaufenden Betrieb, zur Unterbelegung bzw. zur drohenden Schliessung der Säuglingsheime.
Vergleicht man die Schliessungen der städtischen Heime in den 1970er Jahren mit den Schliessungen von Säuglingsheimen in Deutschland, so fällt auf, dass dort das Angebot an Plätzen für Säuglinge bereits ab Mitte der 1960er Jahre abnahm, besonders deutlich in Westdeutschland (Berth, 2023, S. 25). Berth nennt als mögliche Erklärung, dass ein grosser Teil der Kleinkinder neu bei den Müttern zu Hause bleiben konnten, da das Stigma der «ledigen Mutter» schwächer wurde und die Teilzeitarbeit es den Frauen vermehrt ermöglichte, für das Lebensauskommen und die Betreuung der eigenen Kinder aufzukommen (Berth, 2019, S. 89–90). Auch in Zürich wurde 1960 für mehr als die Hälfte der Säuglinge die «aussereheliche Geburt» als Einweisungsgrund angegeben. Obwohl diese Begründung in den darauffolgenden Jahren in Zürich ebenfalls an Bedeutung verlor, blieb das Platzzahlangebot in den städtischen Einrichtungen bis anfangs der 1970er Jahre stabil. Auffallend ist zudem, dass bereits 1960 in den Zürcher Säuglingsheimen die «Arbeit der Mutter» in rund vierzig Prozent der Fälle als Einweisungsgrund galt (Meierhofer & Keller, 1974, S. 50).3 Eine
Erklärung dafür könnte sein, dass anderweitige institutionelle Betreuungsangebote für Kinder, wie etwa Krippen, in der Schweiz im Vergleich zu anderen Staaten in Europa eher klein waren (Sutter, 2005, S. 131). In einem bundesrätlichen Bericht der 1960er Jahre wurde zudem die «Erwerbstätigkeit der jungen Mutter» als «unerwünscht» bezeichnet und die Schaffung von «Fabrikkrippen» als falscher Anreiz diskreditiert (Berenstein, 1970, S. 39). Weshalb die «Arbeit der Mutter» trotzdem bereits 1960 ein wichtiger Einweisungsgrund war, erklären Marie Meierhofer und Wilhelm Keller in ihrem 1966 erstmals erschienen Werk «Frustration im frühen Kindesalter» damit, dass damals etwa sechzig Prozent der Eltern der Säuglinge einen Migrationshintergrund hatten. Die «weiblichen Gastarbeiter» sahen sich gezwungen, ihr Kind in die «Fremdenpflege» zu geben oder mit ihm ins Herkunftsland zurückzukehren. So bescherte die Zuwanderung an Arbeitskräften den Säuglingsheimen um 1960 herum einen «grossen Zuwachs an ausländischen Kindern» (Meierhofer & Keller, 1974, S. 49). Dieser Effekt scheint sich im Verlauf der nächsten Dekade noch zu verstärken. In den frühen 1970er Jahren hatten über achtzig Prozent der Kinder in den Säuglingsheimen der Stadt Zürich Eltern mit einem Migrationshintergrund (PS, 16. 4. 1972). Die Herkunftsländer waren hauptsächlich südeuropäische Staaten (JB, 1970, S. 2), aus denen die Schweiz noch bis Mitte der 1960er Jahre Arbeitskräfte, zur Hälfte Saisonniers und Saisonnieren, anwarb (Mahnig & Piguet, 2003, S. 71). Dies änderte sich 1972, als der Bundesrat eine Statusänderung mit einer Kontingentierung für Saisonarbeitskräfte einführte. In der Folge sank die Einwanderungsquote deutlich. Dieser Abwärtstrend verstärkte sich ab 1975, als die Ölkrise zum Abbau von Arbeitsplätzen führte und auch die Jahresaufenthaltsbewilligungen von Zugewanderten zu einem grossen Teil nicht erneuert wurden (Mahnig & Piguet, 2003, S. 84–85). Zeitgleich sanken in den Säuglingsheimen der Stadt Zürich die Belegungszahlen kontinuierlich, was zu deren Schliessung führte.
Sensibilisiert durch eine intersektionale Perspektive werden in diesem Beitrag die verschiedenen ineinander verschränkten Ungleichheitsachsen nachgezeichnet, die zu Einweisungen in Säuglingsheime führten. Herausgearbeitet wird auf dieser Grundlage, inwieweit die Kleinkinder von mehrfach diskriminierten Arbeitsmigrantinnen die Belegungszahlen der Einrichtungen sicherten und somit die im Vergleich zu Westdeutschland späte Schliessung erklärt werden kann. Dabei interessieren im ersten Teil (Kapitel 3 und 4) die drei Säuglingsheime der Stadt, ihre Aufnahmepraxis und Belegung. Im zweiten Teil (Kapitel 5) wird untersucht, wie die zugewanderte Arbeiterin mit Kind innerhalb der Stadtverwaltung sowie zwischen der Stadt und dem Heimarzt des Säuglingsheims als spezifische Konfiguration (Rodríguez, 1996, S. 170) erstellt
wurde. Bevor diese quellengestützten Ergebnisse präsentiert werden, ist es für eine Einordnung notwendig, die Arbeitsmigration in der Schweiz zu erklären und das methodische Vorgehen darzulegen (Kapitel 1 und 2).
2 Die «weiblichen Gastarbeiter»: Ein Blick in die schweizerische Migrationspolitik aus intersektionaler Perspektive
Im Zuge des grossen Wirtschaftswachstums nach dem Zweiten Weltkrieg migrierten in Europa Millionen von Menschen von Süden nach Norden. Die Staaten versuchten, diese Wanderungsbewegungen von Arbeitskräften mit «zwischenstaatlichen Anwerbevereinbarungen» zu regulieren. In der Schweiz führte das 1948 zu einem Abkommen mit Italien und einer Teilrevision des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG). Als Teil des neuen «Gastarbeitermodells» erliess der Bund das «Saisonnierstatut». Es zwang die Arbeitnehmenden, nach einer «Saison» wieder auszureisen. Das kam vor allem den Arbeitgebenden entgegen, die so ihre Belegschaft fortlaufend der wirtschaftlichen Entwicklung anpassen konnten (Holenstein et al., 2018, S. 294–298). Die Zahl der zugewanderten Menschen stieg in der Schweiz bis Mitte der 1960er Jahre kontinuierlich an. Die eine Hälfte waren Saisonniers und Saisonnieren, die andere Hälfte hatte eine erneuerbare Jahresaufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung (Mahnig & Piguet, 2003, S. 68). Mit dem steigenden Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung nahm auch der Druck aus Italien zu, die Situation der Saisonarbeitskräfte zu verbessern, was 1964 in einem neuen Abkommen mit der Schweiz festgehalten wurde. Das Abkommen und die wachsende Zuwanderung befeuerten die öffentliche Debatte rund um die «Überfremdung». Mittels Volksinitiativen, darunter die 1970 knapp abgelehnte «Schwarzenbach-Initiative», sollte eine Plafonierung des Anteils an ausländischer Bevölkerung erreicht werden. In der Folge betrieb die Schweizer Regierung ab 1970 eine «Stabilisationspolitik». Sie versuchte, die Zuwanderung mit Jahresquoten zu regulieren, was allerdings nur bedingt Wirkung zeigte. Die Zahl der Saisonarbeitskräfte stieg zwischen 1968 und 1972 erneut an. Das änderte sich ab 1974, als auch in der Schweiz der Effekt der Ölkrise spürbar wurde. Innert drei Jahren verschwanden zehn Prozent der Arbeitsplätze. Davon betroffen waren vor allem zugewanderte Arbeitskräfte, deren Aufenthaltsbewilligungen nicht erneuert wurden. Gleichzeitig sanken die Bewilligungsquoten für Saisonniers und Saisonnieren (Mahnig & Piguet, 2003, S. 71–85).
Der «Saisonnierstatus», der erst 1999 abgeschafft wurde, verursachte besonders prekäre Lebenslagen für die Betroffenen (Holenstein et al., 2018, S. 304). Das Ziel der Aufenthaltsbefristung von neun Monaten war, eine Verwurzelung in der Schweiz zu verhindern. Damit verbunden war ein Leben
«isoliert von der schweizerischen Gesellschaft» in oftmals engen, überteuerten Wohnsituationen unter «prekären hygienischen Verhältnissen». Zudem war der Familiennachzug verboten, was Familien auseinanderriss. Mussten beide Ehepartner in der Schweiz arbeiten, wuchsen deren Kinder bei Verwandten auf, wurden in Internaten an der Grenze platziert oder zu tausenden in der Schweiz versteckt (Holenstein et al., 2018, S. 303–302, vgl. zu den «enfants du placard» u. a. Michelet, 2022). Anders als das stereotype Bild des jungen «Gastarbeiters» glauben lässt, waren in den 1960er und frühen 1970er Jahren über 45 Prozent der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz Frauen (Baumann, 2014, S. 35–36). Die Migrantinnen blieben in der Forschung lange Zeit unbeachtet und «wurden bestenfalls als passiv mit- oder nachreisende Ehefrauen und Mütter thematisiert» (Baumann, 2014, S. 13). Die eigentlichen Gründe für ihre Migration wurden unsichtbar gemacht, so auch, dass Frauen zu einem grossen Teil direkt als Arbeiterinnen angeworben wurden. Die grösste Gruppe von ausländischen Frauen stammte damals aus Italien und die überwiegende Mehrheit von ihnen war erwerbstätig. Im Gegensatz dazu arbeitete 1970 weniger als ein Drittel der verheirateten einheimischen Frauen ausserhäuslich. In Bezug auf die hohe Erwerbstätigkeit der zugewanderten Frauen spricht Sarah Baumann von einer «Durchbrechung» der Geschlechternormen durch die Migrantinnen (Baumann, 2014, S. 36–37). Die Autorin zeigt zudem, dass sich die italienischen Arbeitsmigrantinnen in Zürich bereits 1945 innerhalb der ursprünglich als antifaschistische Organisation gegründeten Federazione delle Colonie Libere Italiane in Svizzera (FCLIS) in zwei eigenen Sektionen organisierten. Vorerst engagierten sich die Frauen in der FCLIS den traditionellen Geschlechterrollen entsprechend vor allem karikativ im sozialen Bereich. Das änderte sich in den 1960er Jahren, als vermehrt junge Frauen einwanderten, die politisch links standen und sich kritisch mit der Geschlechterfrage auseinandersetzten (Baumann, 2014, S. 46–57). «Wie können wir eine Bewegung demokratisch nennen, in der die Frau als Migrantin, Arbeiterin und Mutter vergessen wird?», fragte eine Sprecherin am Nationalkongress der FCLIS von 1963 (La donna al XX congresso, zit. nach Baumann, 2014, S. 57). In den folgenden Jahren verwiesen die Migrantinnen wiederholt auf die spezifischen Herausforderungen, die sie als Frauen betrafen. Thematisiert wurde «die Vereinbarkeit von Berufs- und Hausarbeit, die Betreuung der Kinder […] und viele andere Probleme» (Costituita a Ginevra una comissione femminile, 1965, zit. nach Baumann, 2014, S. 58). Die Mobilisierung der Frauen ging einher mit der Gründung verschiedener Frauensektionen sowie der Organisation des ersten Kongresses der Migrantin von 1967. Die Teilnehmerinnen forderten damals mehr Mitspracherecht in den zuständigen Institutionen für Migrationsfragen. Sie kritisierten sowohl den italienischen
als auch den Schweizer Staat für die miserablen Arbeitsbedingungen und den provisorischen Aufenthaltsstatus der Migrantinnen. Zudem machten die Italienerinnen deutlich, dass sich mit ihrer Einwanderung in die Schweiz auch ihre sozialen Rechte verschlechterten. In der Schweiz galt weder «gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit» noch war ein «umfassender Mutterschutz» in Kraft. Ein grosses Gewicht hatten daher die Diskussionen rund um die familiäre Situation der Migrantinnen. Diese war besonders schwierig für Saisonarbeitskräfte, denen der Familiennachzug verboten war. Neugeborene durften nur bis zu drei Monaten im Land bleiben. In der Schlussmotion des Kongresses wurden die Schweizer Behörden deshalb aufgefordert, «den Familiennachzug zu liberalisieren und jene Infrastrukturen zu schaffen, die den Familiennachzug erst ermöglichten», also staatlich geförderte Betreuungsangebote wie «Kindertagesstätten, Krippen und Horte» (Baumann, 2014, S. 61–78).
Diese Kritik der Migrantinnen an der mehrfachen Diskriminierung als Frau sowie als zugewanderte Arbeiterin und Mutter, lässt sich besonders gut mit einer intersektionalen Perspektive analysieren. Das Konzept der Intersektionalität nahm seinen Anfang in den USA der 1970er Jahre mit dem sogenannten «Black Feminism» und dessen Kritik an der damaligen Frauenrechtsbewegung, die sich «ausschliesslich auf weisse, heterosexuell lebende Mittelschichtsfrauen» bezog (Bronner & Paulus, 2017, S. 69). Um das komplexe Zusammenwirken der verschiedenen Diskriminierungsarten zu erfassen, führte Kimberlé Crenshaw 1989 den Begriff «Intersection» ein (Crenshaw, 1989). Das verwendete Bild der Strassenkreuzung steht dabei stellvertretend für die «Verschränkungen der Diskriminierungserfahrungen», von denen eine Person gleichzeitig betroffen sein kann (Bronner & Paulus, 2017, S. 79–80). Katharina Walgenbach schlägt vor, mit dem deutschen Begriff der «Interdependenz» die gegenseitigen Abhängigkeiten und wechselseitige Beeinflussung der Diskriminierungskategorien in den Fokus zu rücken und erklärt, dass die einzelnen Kategorien in sich selbst «interdependent» sind. Das heisst, die Kategorien haben keinen «genuinen Kern» (Walgenbach, 2007, S. 23–24). Mit Blick auf «soziale Strukturen» verwendet Encarnación Gutiérrez Rodríguez das Konzept der «Geschlechterkonfiguration». Gemeint sind Kategorien, wie Arbeiterin oder Migrantin, die über das Geschlecht hinaus gehen. Rodríguez betont dabei die «historische und soziale Spezifik» der einzelnen Konfigurationen (Rodríguez, 1996, S. 170). Während aus intersektionaler Perspektive die verschiedenen Diskriminierungsquellen analysiert werden können, hilft das Bild der Geschlechterkonfiguration, den Blick dafür zu schärfen, wie Personen von aussen kategorisiert und somit als Konfiguration konstruiert werden. Besonders interessant für den vorliegenden Beitrag ist die Frage, inwiefern sich die Konfiguration der zugewanderten
Arbeiterin mit Kleinkind in den Archivbeständen der Stadt aufspüren lässt. Dabei gilt aus historischer Perspektive zu beachten, dass sich Kategorien und deren Zuschreibungen mit der Zeit verändern können (vgl. dazu Dietze et al., 2007, S. 139).
3 Methodisches Vorgehen und Quellenlage
Dem Beitrag liegen Ergebnisse des laufenden Forschungsprojekts «Die Aushandlung von Erziehungsräumen in der Heimerziehung 1970−1990. Ein interdisziplinärer Vergleich von Transformationsprozessen in Deutschland, Österreich und der Schweiz» zugrunde.4 Das Schweizer Teilprojekt untersucht die Heimerziehung in der Stadt Zürich und arbeitet mit dem Quellenbestand des Sozialamts, archiviert im Stadtarchiv Zürich. Dieser Bestand beinhaltet verschiedene Quellensorten wie Protokolle, Berichte, Korrespondenzen oder Konzepte, verfasst von zahlreichen Akteur*innen. Nach einer ersten Sichtung der archivierten Dokumente wurden die Protokolle der Heimkommission (HK, 1970–1979)5 als aussagekräftige Quelle identifiziert. Das vom Stadtrat einberufene Laiengremium hatte eine beratende Funktion hinsichtlich der Kinder- und Jugendheime in städtischer Trägerschaft und tagte mehrmals im Jahr unter dem Vorsitz der Stadträtin und im Beisein der Chefs der zuständigen Jugendämter. Die Sitzungsprotokolle, die für den gesamten Untersuchungszeitraum vorliegen, wurden der Grounded Theory folgend offen codiert (Corbin & Strauss, 2008; Mey & Murk, 2019). Für diesen Beitrag wurde der Fokus auf die Säuglingsheime gelegt. Mit dem Ziel, den Kontext, die Geschichte und die Funktion der städtischen Säuglingsheime herauszuarbeiten, wurden in einem zweiten Schritt die Sachakten der Stadtverwaltung mittels strukturierender Inhaltsanalyse thematisch geordnet (Mayring, 2010). Dabei erwiesen sich zum einen die jährlichen Geschäftsberichte der Stadt Zürich (GB, 1970–1979) und die Platzierungsstatistiken (PS, 1970–1974), die zu den Säuglingsheimen Ottenweg und Florhof vorliegen, als informative Quellen zur Systematisierung der Belegungszahlen. Zum andern stellten sich die Jahresberichte der Säuglingsheime (JB, 1970–1979) sowie Korrespondenzen, Umfragen, Ausschreibungen und Abklärungen zu den einzelnen Säuglingsheimen als aussagekräftige Dokumente auf diskursiver Ebene heraus. Die Jahresberichte wurden vom jeweiligen Heimarzt geschrieben, der jährlich den Gesundheitszustand der Kinder und den Betrieb der Einrichtung dokumentierte. Ein Jahresbericht einer Heimleiterin vom Florhof liegt ebenfalls vor. Weitere Akten zum Säuglingsheim Florhof umfassen eine Stellenausschreibung von 1971 (FP), Korrespondenzen zwischen dem Heimarzt und dem Chef des Jugendamts I sowie eine Zusammenfassung über die Aufnahmepraxis in den Säuglingsheimen auf städtischem Boden von 1973 (FA). Zum
Säuglings- und Kleinkinderheim Wildbach liegen zudem Abklärungen zum «Bedürfnis nach Heimplätzen» (BA) aus dem Jahr 1976 und eine Befragung von zuweisenden Stellen aus dem Jahr 1978 (WA) vor. Im Rahmen dieser Abklärungen führte 1976 die Heimleiterin mündlich eine «Mütterumfrage» durch und hielt die Ergebnisse dazu schriftlich fest. Diese Quelle ist besonders wertvoll, da darin die Sicht der betroffenen Mütter, wenn auch nur indirekt, enthalten ist.
Ausgehend von dieser Quellenlage zeichnet der Beitrag ein Bild der städtischen Säuglingsheime aus verschiedenen Blickwinkeln. Dabei müssen weiterführende Forschungsfragen, zur Perspektive der betroffenen Eltern und zur Sicht derjenigen, die in ihrer Kindheit selbst im Säuglingsheim untergebracht waren, vorerst offenbleiben.
4 Die Säuglingsheime der Stadt Zürich in der Heimlandschaft der 1970er Jahre
Die Stadt Zürich war 1970 Träger von 27 Kinder- und Jugendheimen, darunter seit den 1940er Jahren die beiden Säuglingsheime Florhof und Ottenweg (LB, 1985, S. 28). Beide Einrichtungen waren dem Jugendamt I des Sozialamts der Stadt Zürich unterstellt und boten zusammen 109 Plätze (GB, 1970, S. 240). Aus den Quellen wird nicht ersichtlich bis zu welchem Alter die Kleinkinder in den Heimen blieben. Festgehalten wurde lediglich, dass es vorschulpflichtige Kinder waren. Innerhalb der stadtzürcherischen Heimlandschaft unterschieden sich die beiden Säuglingsheime von den anderen Einrichtungen vor allem darin, dass sie auf die Altersgruppe der Kleinkinder und Säuglinge spezialisiert waren. Andere Heime nahmen sowohl ältere als auch jüngere Kinder auf. Auf Anregung vom Institut für Psychohygiene unter der Leitung von Dr. med. Marie Meierhofer6 wurde beispielsweise 1971 in der grossen Jugendsiedlung Heizenholz eine altersdurchmischte Gruppe als «Experiment mit Säuglingen und Kleinkindern bis zum fünften Altersjahr» konzipiert (HK, 14. 12. 1971, S. 5). Dieses Ausprobieren neuer Betreuungsformen, gestützt auf die Forschung am Institut für Psychohygiene, führt zur Frage, inwiefern die fachliche Kritik an den Säuglingsheimen in den normativen Deutungen der Stadtverwaltung an Einfluss gewann. Die Strukturen in den bestehenden Säuglingsheimen blieben allerdings vorerst unverändert. Dieses Beharren trotz neuem Wissen aus Fachkreisen lässt sich am Beispiel des Säuglingsheims Florhof zeigen. In der Stellenausschreibung für eine neue Heimleiterin von 1971 steht geschrieben, dass das Heim «ca. 60 Säuglinge bis zum Höcklialter beherbergt» und die gesuchte diplomierte Säuglingsschwester «ca. 30 Mitarbeiterinnen» zu leiten hat (FP, 1971). Die «Oberschwester» arbeitete jeweils eng mit dem Heimarzt zusammen, der jährlich in einem Bericht den Gesundheitszustand der Kinder und Informationen zum Heimbetrieb dokumentierte. In einer Korrespondenz mit dem Leiter
des Jugendamts I erklärte der Heimarzt 1973, dass das «Experiment», im Florhof «Säuglinge erst nach 2–3 Monaten Aufenthalt bei den Eltern […] einzuweisen», sich «nicht verantworten lässt» (FA, 29. 5. 1973). Eine Praxis, die damals in den privaten Säuglingsheimen der Stadt Zürich gängig war, wie eine Umfrage dazu zeigte (FA, 8. 6. 1973). Zwar anerkannte der Arzt, dass «ein solches Vorgehen vom psychohygienischen Standpunkt aus wünschbar ist», trotzdem gab er mit dem Argument der «jetzigen Personalsituation» bekannt, dass davon abzusehen sei. «Die Leute, welche ihr Kind 1–3 Monate zu Hause gehabt haben, haben dem Heim gegenüber eine ganz andere Einstellung als Eltern, deren Kind direkt von der geburtshilflichen Abteilung zu uns kommt. Wir haben bis jetzt in allen Fällen Schwierigkeiten gehabt» (FA, 29. 5. 1973). Der Chef des Jugendamts genehmigte in der Folge dem Florhof «versuchsweise» nur noch Neugeborene aufzunehmen, verwies allerdings darauf, dass es «nicht im Sinne der Empfehlung von Fräulein Dr. Meierhofer vom Institut für Psychohygiene ist» (FA, 13. 6. 1973).
Die Praxis nur Neugeborene aufzunehmen, mit der Argumentation, dass es für den Betrieb des Heims einfacher sei, ist aus heutiger Sicht absolut schockierend. Geht man davon aus, dass bezahlbare Plätze für die Betreuung von Kleinkindern rar waren, lässt sich daraus schliessen, dass die Eltern gezwungen waren, sich den Aufnahmepraxen der Säuglingsheime anzupassen. Wollten sie ihr Kind im Säuglingsheim Florhof unterbringen, mussten sie es direkt nach der Geburt abgeben. Sie riskierten sonst, den Betreuungsplatz zu verlieren. Aus dieser Perspektive kann das Säuglingsheim als ein spezifischer Raum7 gelesen werden, der komplett durch die Oberschwester und den Heimarzt hergestellt, geregelt und kontrolliert wurde. Neuerungen, die von aussen kamen, wurden abgewehrt und der Betrieb trotz fachlicher Kritik wie gewohnt aufrechterhalten. Der zuständige Chef des Jugendamts, der die Praxis kritisierte, liess sie gewähren. Die auf einen Betreuungsplatz angewiesenen Eltern mussten sich der Praxis fügen oder eine andere Lösung suchen. Interessant wäre an dieser Stelle die Sichtweise der betroffenen Eltern zu erforschen, diese lässt sich aus den vorhandenen Quellen nicht rekonstruieren.
Während im Florhof die alten Strukturen aufrechterhalten wurden, lief parallel dazu die Planung für das neue Säuglings- und Kleinkinderheim Wildbach. Der Neubau bot neben dem Heim für Kleinkinder auch Platz für eine Alterssiedlung und ein Parkhaus, eine einzigartige Kombination in der stadtzürcherischen Heimlandschaft (HK, 8. 12. 1970, S. 9). Wie die Bezeichnung «Säuglings- und Kleinkinderheim» vermuten lässt, waren neben der Säuglingsgruppe auch altersdurchmischte Gruppen und gar eine Durchgangsgruppe geplant, ganz im Sinne des oben beschriebenen «Experiments» (GB, 1975, S. 301). Das Heim bot 45 bis 50 Plätze und galt als Ersatz für das Säuglingsheim
Florhof, wobei auch das Säuglingsheim Ottenweg kurz darauf wegen Unterbelegung geschlossen wurde. Die chronische Unterbelegung des Säuglings- und Kleinkinderheims Wildbach führte im Mai 1979 nach nur vier Jahren zu dessen Schliessung. Im folgenden Kapitel gilt es nun, diese Belegungszahlen näher zu untersuchen.
5 Statistische Daten im Vergleich
Wie bereits erwähnt, verlaufen die sinkenden Belegungszahlen der Säuglingsheime parallel zu den abnehmenden Zuwanderungszahlen der Schweiz. Hier stellt sich die Frage, inwiefern zwischen den beiden Phänomenen ein Zusammenhang besteht. In einem ersten Schritt werden im Folgenden die Belegungszahlen dargestellt, um diese anschliessend mit den Einweisungsgründen und den Zahlen der nationalen Zugehörigkeit zu diskutieren.
5.1 Belegungszahlen von 1970–1979
Die Stadt Zürich hat im Verlauf des Untersuchungszeitraums verschiedene statistische Daten erhoben. Aus den jährlichen Geschäftsberichten des Stadtrats lassen sich u. a. das Platzangebot, die Anzahl der Kinder, die während dem Jahr im Heim waren, sowie die durchschnittliche Jahresbesetzung, also die Gesamtauslastung des Heims in Prozent, und die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Kinder ablesen (GB, 1970–1979). Die folgende Tabelle listet die jeweiligen Zahlen nach Jahr und Heim geordnet auf.
Als 1975 das Säuglingsheim Florhof aufgelöst wurde, zog die Belegschaft mit den Kindern ins neue Säuglings- und Kleinkinderheim Wildbach um. Das erklärt, weshalb die Zahlen aus dem Wildbach für das Jahr 1975 mit denen aus dem Florhof zusammengefasst wurden. Das Säuglingsheim Ottenweg schloss Ende Juni ebenfalls seine Türen, was die tiefe durchschnittliche Jahresbesetzung von 1975 begründet, die sich auf lediglich sechs Monate bezieht. Dasselbe gilt für das Jahr 1979, als das Säuglings- und Kleinkinderheim Wildbach im Mai geschlossen wurde.
Die Übersicht zeigt, dass die Stadt Zürich von 1971 bis 1976 das Platzzahlangebot in den Säuglingsheimen um mehr als die Hälfte reduzierte, von 109 auf 45 Plätze. Die Anzahl der Kinder, die im Verlauf des Jahres im Heim untergebracht waren, begann ab 1972 zu sinken. 1971 wurden noch 224 Kinder in die beiden Säuglingsheime eingewiesen, 1978 waren es nur noch 46, was etwa einem Fünftel entspricht. Diese drastische Reduktion erfolgte innert sieben Jahren, was sich auch in der durchschnittlichen Jahresbesetzung der Heime widerspiegelt. Anfangs der 1970er Jahre war die Auslastung um die neunzig Prozent, 1978 nicht einmal mehr fünfzig Prozent. Während sich also die Verkleinerung und darauffolgende Schliessung der Säuglingsheime in den Belegungszahlen und dem Platzzahlangebot deutlich abzeichnen, blieb die durchschnittliche Aufenthaltsdauer zwischen vier bis sechs Monaten abgesehen von einem Ausreisser stabil. Dieser Durchschnitt stimmt ungefähr mit den Zahlen von Deutschland aus den späten 1960er Jahren überein (Berth, 2023, S. 28). Umfassende statistische Zahlen zu den Säuglingsheimen in der Schweiz konnten für diese Studie nicht eruiert werden.
5.2 Einweisungsgründe im Vergleich zu 1960
Im Vergleich zu den 1960er Jahren veränderten sich die Einweisungsgründe in stadtzürcherische Säuglingsheime in den 1970er Jahren. Das zeigt ein Vergleich der Daten aus der bereits erwähnten Untersuchung der Jahre 1958 bis 1960 von Meierhofer und Keller (1974, S. 49–50) mit den Zahlen aus der Platzierungsstatistik der Säuglingsheime Florhof und Ottenweg von 1970 bis 1974.
Als Hauptgrund für die Unterbringung im Säuglingsheim wurde 1958/60 die «Aussereheliche Geburt» angegeben. In der Studie von Meierhofer und Keller fehlen allerdings Zahlen oder Kommentare dazu, wie häufig Frauen nach der Geburt ihres Kindes berufstätig waren und ob für ledige Mütter die Berufstätigkeit ein weiterer Grund war, das Kind im Säuglingsheim unterzubringen. Die «Arbeit der Mutter», damals ebenfalls ein gewichtiger Einweisungsgrund, wurde dem «grossen Ausländeranteil» zugeschrieben sowie «der im Volke noch immer vorherrschende[n] Meinung, […] wonach es Säuglingen
nichts anhaben kann, von fremder Hand gepflegt zu werden» (Meierhofer & Keller, 1974, S. 50). Ein Unterschied in den statistischen Zahlen zeigte sich auch darin, dass die «ausserehelich» geborenen Säuglinge vorwiegend eine schweizerische Nationalität hatten, während die Kinder mit italienischer Staatszugehörigkeit zum grössten Teil aus «vollständiger Familie» stammten. Der Begriff «vollständig» verweist auf ein verheiratetes Paar, das in der Regel gemeinsam für seine Kinder sorgt. Diese Sorge für die Kinder wurde den migrierten Eheleuten jedoch verwehrt, da beide Elternteile aus rechtlichen und finanziellen Gründen zur Erwerbstätigkeit gezwungen waren und den Arbeitszeiten angepasste Betreuungsplätze kaum vorhanden waren (Meierhofer & Keller, 1974, S. 48–49; Sutter, 2005, S. 131).
In den 1970er Jahren wurden in der Stadt Zürich die Einweisungsgründe für jede einzelne Einrichtung pro Jahr erfasst. Leider liegen die Formulare der Platzierungsstatistik nur bis zum Jahr 1974 vor, somit fehlen die Daten zum Säuglings- und Kleinkinderheim Wildbach. Für eine bessere Lesbarkeit wurden die Zahlen der beiden Säuglingsheime Florhof und Ottenweg in einer Tabelle zusammengefasst. Die Beschriftungen sind den Originalformularen entnommen (PS, 1970–1974).
Auf den Formularen der Platzierungsstatistik finden sich in den 1970er Jahren ähnliche Kategorien wie zehn Jahre zuvor. Deutlich an Bedeutung eingebüsst hat die Kategorie der «ausserehelich geborenen Kinder», die neu mit dem Wort «Illegitimität» erfasst wurde. Dies stimmt mit den Erkenntnissen aus den statistischen Daten in Deutschland überein (vgl. Berth, 2023, S. 38). Die «Arbeit der Eltern» war neu der überwiegende Hauptgrund für eine Unterbringung im Säuglingsheim. Andere Gründe wie ungünstige Familien- oder Wohnverhältnisse
oder die Krankheit der Eltern wurden selten genannt. Auch hier gilt zu beachten, dass jeweils nur ein Grund pro Kind erfasst wurde, was wohl kaum die Realität abbildete. Weiter fällt auf, dass neu von «Eltern» die Rede ist und nicht mehr nur von der «Mutter» allein. Für diesen Beitrag ist zudem von Interesse, ob die Erwerbstätigkeit der Eltern als Einweisungsgrund im Zusammenhang mit der nationalen Zugehörigkeit der Eltern bzw. dem damit verbundenen prekären rechtlichen und gesellschaftlichen Status steht, so wie es für die 1960er Jahre von Meierhofer und Keller festgestellt wurde.
5.3 Nationale Zugehörigkeit und Kostengutsprache
Neben den Einweisungsgründen wurden in den 1970er Jahren weitere Daten erfasst, so auch die Herkunft der Kinder. Die in den Quellen gemachte Unterscheidung bei Kindern schweizerischer Nationalität zwischen Bürger*innen der Stadt und des Kantons Zürich ist für die Forschungsfrage irrelevant. Deshalb wurde in der folgenden Tabelle lediglich die schweizerische von der nichtschweizerischen Staatszugehörigkeit unterschieden. Die Beschriftung ist den Formularen zur Erfassung der Zahlen entnommen (PS, 1970–1974).
Berechnet man den prozentualen Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund, so sind es in allen fünf Jahren zwischen achtzig und neunzig Prozent. Das ist weit mehr als noch 1960, als in der Untersuchungsgruppe der jüngsten Kinder etwa sechzig Prozent der Eltern eine ausländische Nationalität hatten (vgl. Meierhofer & Keller, 1974, S. 48). Da in den 1970er Jahren der Haupteinweisungsgrund die «Arbeit der Eltern» war und die Zahlen der Kostengutsprachen zeigen, dass hauptsächlich die Eltern für die Kosten verantwortlich waren, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass in den 1970er Jahren vor allem die Arbeitsmigrantinnen ihre Kinder im Säuglingsheim untergebracht haben. Die Vermutung, dass viele der zugewanderten Eltern das Heim als eine Art Krippe nutzten, ist plausibel.
Aus der Tabelle lässt sich ablesen, dass der kleinere Teil der Kinder von amtlichen Stellen eingewiesen wurde. Es wäre möglich, dass davon vor allem Kinder unverheirateter Mütter betroffen waren. Die genaueren Einweisungsgründe dieser Fälle können anhand der hier untersuchten Zahlen nicht erklärt werden. Die Zahlen weisen aber darauf hin, dass Kinder von zugewanderten Eltern im Vergleich zu den 1960er Jahren vermehrt von behördlichen Massnahmen betroffen waren. Dies deckt sich mit den Ergebnissen der Studie von Susanne Businger und Nadja Ramsauer über Heimplatzierungen von Kindern und Jugendlichen im Kanton Zürich. Sie leiten daraus eine vermehrte Integration der ausländischen Bevölkerung ab (Businger & Ramsauer, 2019, S. 74). Denkbar wäre, dass auch Diskriminierung aufgrund der Herkunft bei den behördlichen Einweisungen eine Rolle spielte. Um die Logik der Behörden nachzuzeichnen, ist allerdings weitere Forschung nötig.
5.4 Zwischenfazit/h3>
Aus den bearbeiteten Quellen geht hervor, dass sich im Vergleich zu den 1960er Jahren die Funktion des Säuglingsheims in den 1970er Jahren verändert hat. Die zwei grössten Unterschiede sind, dass einerseits die «Erwerbstätigkeit der Eltern» zum wichtigsten Einweisungsgrund wurde und andererseits über achtzig Prozent der Kleinkinder eine ausländische Staatszugehörigkeit hatten. Dazu kommt, dass die überwiegende Mehrheit der Säuglinge von den Eltern selbst ins Heim eingewiesen wurde und diese für die Kosten aufkamen. Die Zahlen lassen vermuten, dass das Säuglingsheim eines der wenigen Betreuungsangebote für die Kleinkinder von berufstätigen zugewanderten Eltern war. Hier stellt sich die Frage, ob damit die im Vergleich zu Westdeutschland verspätete Schliessung der Säuglingsheime der Stadt Zürich erklärt werden kann. Trugen die Säuglinge der zugewanderten Arbeiterinnen zur Sicherung der Belegungszahlen bei? Dieser Frage gilt es im zweiten Teil nachzugehen, indem die Akten der Stadtverwaltung
und die vorliegenden Quellen aus den Säuglingsheimen untersucht werden.
6 Die Konfiguration der zugewanderten Arbeiterin mit Kind
Ein wichtiges Thema in den Diskussionen und Korrespondenzen der Stadtverwaltung und des Heimpersonals waren die Herkunftsfamilien. Im Fokus standen dabei besonders die berufstätigen Mütter mit Migrationshintergrund. Diese Konfiguration, die aus verschiedenen Kategorien besteht (Frau, Mutter, Arbeiterin, Migrantin), lässt sich mit Blick auf unterschiedliche Diskriminierungsebenen aus intersektionaler Perspektive analysieren. Kurz gesagt waren die Betroffenen als Frauen in der schweizerischen Gesellschaft sozial schlechter gestellt, zugleich wurden sie als Migrantinnen rechtlich und gesellschaftlich diskriminiert, als Arbeiterinnen wirtschaftlich ausgebeutet und als Mütter gesellschaftlich benachteiligt. Das Zusammenspiel dieser Diskriminierungsachsen gilt es bei der Analyse der Quellen zu berücksichtigen.
6.1 Das Säuglingsheim als Unterkunft für «sozial gerechtfertigte» Fälle
1978 beauftragte die Stadträtin den Chef des Jugendamts I damit, eine «Bedürfnisabklärung» für das Säuglings- und Kleinkinderheim Wildbach durchzuführen. In einer Umfrage wurden die zuweisenden Behörden der Stadt Zürich u. a. nach den Gründen für «die krasse Unterbelegung» im Wildbach befragt, wobei in einer Klammer bemerkt wurde: «Auf die allgemein bekannten Gründe wie Pillenknick, Rezession, Rückgang der Fremdarbeiter brauchen Sie nicht einzugehen» (WA, 7. 3. 1978). Auch 1974, als kurz vor der Eröffnung bereits schlechte Belegungszahlen für das neue Heim Wildbach befürchtet wurden, rückten die Kinder der zugewanderten Arbeitskräfte in den Fokus. Der Chef des Jugendamts I erklärte in der Heimkommissionssitzung: «Nach den Festtagen werde man dann sehen, welche Fremdarbeiterkinder wieder zurückkämen». Die Zitate sprechen für die These, dass diese Kinder die Belegungszahlen sicherten und deren Ausbleiben die Existenz der Säuglingsheime in Frage stellte. Um das Problem zu entschärfen, zog der Chef des Jugendamts I 1974 die Idee von «Säuglingsdurchgangsplätzen» in Erwägung und plante die endgültige Abschaffung der Regel, «wonach die Säuglinge direkt vom Spital kommen müssten» (HK, 11. 12. 1974, S. 12). Als weiteren Grund der Unterbelegung nannte er die kürzlich erhöhten Taxen, woran allerdings nichts geändert wurde. Im Anschluss erläuterte die Stadträtin den Zweck des Heims aus ihrer Sicht: «Das Heim soll in all jenen Fällen Unterkunft sein, wo es sozial gerechtfertigt ist, jedoch keine Ausweichmöglichkeit eröffnen, damit man ungehemmt dem Erwerb nachgehen könne. Sie denke an ledige Mütter, andere schwierige
Fälle» (HK, 11. 12. 1974, S. 13). Mit der Konstruktion der Mutter, hier vor allem der unverheirateten Mutter, die «ungehemmt» arbeitet, knüpfte die Stadträtin an das vorherrschende Idealbild des Ernährer-Familienmodells mit den damit verbundenen Geschlechterrollen an. Während vom Vater erwartet wurde, dass er arbeitet, wurde die arbeitende Mutter per se als «schwieriger Fall» dargestellt. Säuglingsheime sollten demnach nicht dazu dienen, dass Mütter arbeiten können, ausser es war «sozial gerechtfertigt». Waren damit auch die zugewanderten Arbeiterinnen gemeint, die gezwungen waren zu arbeiten, um ihren Aufenthaltsstatus nicht zu verlieren, die Wohnung zu bezahlen und Essen zu kaufen? Aus welchen Gründen die Migrantinnen ihre Kinder ins Säuglingsheim brachten, lässt sich auch an einer Quelle von 1976 zeigen. Im Rahmen einer Bedürfnisabklärung wurden damals 26 Mütter, die meisten von ihnen «Fremdarbeiterinnen», anhand eines Leitfadens zur Platzierung ihrer Kinder im Säuglings- und Kleinkinderheim Wildbach befragt. Die Heimleiterin, die selbst italienisch und spanisch sprach, führte die Befragung «gesprächsweise» durch, «um eine möglichst spontane Reaktion zu erreichen» (BA, 1976, S. 3). Die Zusammenfassung der Befragung hielt die Leiterin schriftlich fest. In den Antworten wird unter Punkt drei deutlich, dass die prekäre Lage der Mütter der Hauptgrund war für die Heimplatzierung:
3. Gründe für die Plazierung im Wildbach:
a) Wohnverhältnisse: in den meisten Fällen ist keine Wohnung vorhanden, nur Zimmer, z. t. [sic] mit Bade- und Kochgelegenheit.
b) Berufstätigkeit der Mutter: mit einer Ausnahme (Gerichtsfall) sind alle Mütter berufstätig, u n d [sic]
c) können aus diesem Grunde die volle Betreuung des Kindes nicht übernehmen;
d) keine gesundheitlichen Gründe vorhanden;
e) andere Gründe? mit einer einzigen Ausnahme, sind es vor allem finanzielle Gründe, die es der Mutter nicht erlauben das Kind bei sich zu behalten – in 4 Fällen muss die Kindesmutter allein für ihr Kind aufkommen. (BA, 1976,
S. 2–3)
Die Befragung zeigt, wie mehrere Gründe gleichzeitig zu einer Heimunterbringung führten. Mit Punkt a) wird deutlich, dass die zugewanderten Arbeitskräfte besonders stark von schwierigen Wohnverhältnissen betroffen waren. Gleichzeitig waren mit einer Ausnahme alle Mütter, die einen Betreuungsplatz für ihr Kind benötigten, berufstätig und finanziell unter Druck. Laut der Heimleiterin thematisierten zudem fast alle Befragten ihre «ungewisse Arbeitslage», welche die «Zukunftspläne verunsicherten» (BA, 1976, S. 3). Das erklärt auch, weshalb
die Mütter beim Zeitpunkt der Befragung planten, ihr Kind vorderhand im Heim zu lassen. Einzelne hofften, in absehbarer Zukunft ins Heimatland zurückkehren zu können.
Während die Mütter sich offensichtlich aus einer Notlage heraus gezwungen sahen, ihr Kind im Säuglingsheim unterzubringen, wurde die Herkunftsfamilie der Säuglinge in den Heimen selbst kontrovers diskutiert. Im Folgenden wird auf das Säuglingsheim Florhof fokussiert, zu welchem Jahresberichte des Heimarztes von 1970 bis 1975 sowie ein Bericht der Heimleiterin über das Jahr 1972 vorliegen. Die drei normativen Deutungsmuster zeigen, wie die Herkunftsfamilie aus dem Heim heraus als negativ konstruiert wurde.
6.2 Der «Trennungsschock» nach den Ferien im Ausland
Im vom Heimarzt verfassten Jahresbericht 1970 zum Florhof werden die Herkunftsfamilien thematisiert, indem geschildert wird, dass die Kinder ihre Ferien im Ausland verbringen und bei der Rückkehr einen sogenannten «Trennungsschock» erleiden.
Ab ca. 6. Lebensmonat – wenn die Säuglinge vom untern Stockwerk ins obere versetzt werden –, verbringen die Kinder die Freitage der Eltern zu Hause, die Ferien gewöhnlich im Ausland. Von den Freitagen kommen die Kinder meist erschöpft in den Florhof zurück und werden im Bett und bei schmaler Kost gehalten. Nach den Ferien sehen wir relativ häufig den Trennungsschock von der Familie – besonders der Nonna –, der in wenigen Tagen abklingt, über dessen Nachwirkungen wir aber noch nicht im Klaren sind. (JB, 31. 12. 1970, S. 1)
Aus der Beschreibung lässt sich ein striktes Regime im Säuglingsheim ablesen. Klar geregelt war das räumliche Arrangement mit der Einteilung der Kleinkinder je nach Alter auf zwei Stockwerke. Damit verbunden war die Regelung des Kontakts mit den Eltern. So durften die jüngsten Kinder im unteren Stockwerk offenbar nicht nach Hause. Aus dem Jahresbericht der Heimleiterin geht hervor, dass die Eltern damals nur zweimal wöchentlich während den «Besuchszeiten» ins Heim kommen durften. Dies änderte sich 1972, als drei «Besuchszeiten» eingeführt wurden und die täglichen Besuche in Aussicht gestellt wurden, damit die Kinder «später weniger Schwierigkeiten machen» (JB, 13. 1. 1973). Erst ab ca. halbjährig, mit dem Aufstieg in das obere Stockwerk, konnten die Eltern ihr Kind an freien Tagen und für Ferien nach Hause oder mit ins Ausland nehmen. Diese Ausflüge wurden vom Heimarzt 1970 ebenfalls kritisiert, wenn er schrieb, die Kinder kehrten «erschöpft» ins Heim zurück. Die Konsequenz daraus, die Kinder «im Bett und bei schmaler Kost» zu «halten», klingt wie eine
Strafe. Gut möglich, dass die Massnahme der Annahme entsprach, die Kinder so wieder beruhigen zu können. Vielleicht diente die Praktik aber auch dazu, die Mitarbeiterinnen zu entlasten und den Betrieb aufrechtzuerhalten. Grundsätzlich sorgte sich der Arzt um das Wohlbefinden der Kinder, wenn er den «Trennungsschock» nach den Ferien feststellte und sich über dessen «Nachwirkungen» Gedanken machte. Indirekt standen dabei erneut die Eltern in der Kritik, die er zusammen mit der italienischen Grossmutter für die Situation verantwortlich machte. Dies wird noch deutlicher im Jahresbericht von 1973, in dem der Heimarzt vom «Rückkehrschock» spricht. Die «Kinder sind zu lange in den Ferien und können sich dann in den ersten Tagen nur sehr schwer wieder im Heim einleben» (JB, 1972, S. 1). Die Eltern und Grossmütter werden als Ursache für die Unruhe gesehen, die das Kind erschöpft und dessen Wohlbefinden in Gefahr bringt. Das Säuglingsheim erscheint dabei als klar strukturierter und geregelter Raum, quasi als ruhiges Gegenstück zur chaotischen Familie ausserhalb des Heims.
6.3 Die eingeschleppten Krankheiten aus dem Wochenende
Im Jahresbericht von 1971 führte der Heimarzt vom Florhof die vielen «katarrhalische[n] Infekte» darauf zurück, dass «die häuslichen Voraussetzungen bei den nach Hause gehenden Kindern oft ungünstig ist [sic] und besonders Ausländerfamilien gewöhnlich ausgedehnte Besuche zu empfangen pflegen. So kommt es dann oft, dass wir die Kinder während der Woche wieder gesund pflegen und diese dann über das Wochenende daheim wieder krank werden» (JB, 1. 1. 1972, S. 1). Der Arzt erklärte allerdings, dass das Heimpersonal diese «erhöhten Risiken» aus «psychologischen Gründen» in Kauf nimmt. Generell bezeichnete er das Jahr 1971 als schwieriges Jahr. Einer der Hauptgründe waren die «Fremdarbeiter».
Weitere Schwierigkeiten hatten wir mit den Fremdarbeitern und ihrer Mentalität. Diese ‹Gastarbeiter› sind sich ihres Wertes bewusst geworden, seit die Probleme um ihre Anwesenheit diskutiert werden. Auf der einen Seite stellen sie erhöhte Forderungen und haben andererseits doch dauernd das Gefühl, man behandle sie nicht recht. Da die Mütter selber zur Arbeit gehen und mit dem Aufziehen von Säuglingen keine Erfahrung haben, deuten sie jede katarrhalische Erkrankung als eine Vernachlässigung oder als schlechten Willen des Heimes. Dass aber genau die gleichen Eltern mit grippalen Erkrankungen, Husten und Schnupfen in die Besuchszeit kommen und ihre Kinder verküssen, das macht ihnen keinen Eindruck. Wie oft versuchen wir, Eltern davon zu überzeugen, dass eine Mutter nicht mehr zur Arbeit gehen sollte, aber dies nützt wenig: Geld muss her und Geld muss ins Ausland!
Was mit den Kindern geht, ist diesen Leuten weniger wichtig, solange sie gesund sind. Sie realisieren auch nicht, dass durch die niedrigen Pensionspreise in den städtischen Heimen ihr Einkommen aufgerundet wird! (JB, 1. 1. 1972, S. 2–3)
Im Zitat zeigen sich mehrere normative Wertungen. Die Mütter wurden als unerfahren bezeichnet. Da im Florhof zu jener Zeit Säuglinge nur direkt vom Spital aufgenommen wurden, hatten sie keine Erfahrung in der Pflege des Kleinkindes und wurden daher aus der Sicht des Heims als schlechte Mütter konstruiert. Dazu passt auch die Anschuldigung, dass die Eltern grippale Infekte ins Heim brachten und der Vorwurf, es sei ihnen nicht wichtig, «was mit den Kindern geht». Mit der Bemerkung, die Kinder würden stets krank aus den Wochenenden zurückkehren, wird der Haushalt der zugewanderten Familien als Herkunftsort von Krankheiten definiert. Dies in Abgrenzung zum hygienisch sauberen Säuglingsheim als Raum, in dem die Kinder anschliessend wieder gesund gepflegt werden.
6.4 Kritik an der erwerbstätigen Mutter
Derselbe Arzt kritisierte allerdings wiederholt im Einklang mit den fachlichen Debatten die «psychohygienische Betreuung» im Heim. Seiner Ansicht nach wäre es besser gewesen, wenn die Kinder gar nicht erst im Säuglingsheim untergebracht worden wären. Mit dieser Argumentation machte er wiederum die Mütter für die Gefährdung der «psychohygienischen» Gesundheit der Kinder verantwortlich, indem er sie für ihre Arbeitstätigkeit kritisierte. Damit reproduzierte er die gängigen Geschlechterrollen. Gleichzeitig markierte er die Frauen als Ausländerinnen, die erwerbstätig waren, damit sie Geld ins Ausland schicken konnten. Mit diesem Vorwurf erweiterte er zudem die Konstruktion der schlechten Mutter um die Facette der Einkommenssteigerung. Das Argument, die Unterbringung in städtischen Heimen «runde ihr Einkommen auf», trieb die Konstruktion noch auf die Spitze. Die Zugewanderten wurden beschuldigt, öffentliche Unterstützung in der Schweiz zu nutzen, um ihren eigenen finanziellen Interessen oder denjenigen ihrer Herkunftsfamilien im Ausland nachzugehen. Das alles steht im starken Widerspruch zur prekären Situation der zugewanderten Menschen, die sich ein Familienmodell nach dem Vorbild der Ernährer-Familie nicht leisten konnten.
6.5 Zwischenfazit
Die drei aufgeführten Themen verdeutlichen, wie ambivalent die Herkunftsfamilie und insbesondere die Mütter vom Heimarzt diskutiert wurden. Dass genau diese Frauen es wagten, sich kritisch gegenüber dem Heim zu äusserten
und dem Personal zum Teil «Vernachlässigung» oder «schlechter Wille» vorzuwerfen, passte kaum in das Konstrukt der unerfahrenen Mutter, die sich nicht für das Wohlergehen ihres Kindes interessierte. Es ist daher kein Zufall, dass an dieser Stelle der Heimarzt die «Gastarbeiter» generell als zu fordernd und mit ihrer «Mentalität» als unangepasst kritisierte. Möglicherweise stehen diese negativen und stereotypisierenden Markierungen im Zusammenhang mit der damals zunehmend fremdenfeindlichen Stimmung in der Schweizer Bevölkerung, den politisch lancierten Überfremdungsinitiativen und der damit verbundenen Forderung, dass «der Fremde sich dem Einheimischen anpasst und nicht umgekehrt!» (Baumann, 2014, S. 127). Anders betrachtet, lässt diese Konstruktion auch einen emanzipatorischen Aspekt erahnen. Durch ihre Kritik treten die zugewanderten Frauen als Figuren in Erscheinung, die sich fordernd für ihre Anliegen einsetzten und somit die ihnen zugewiesenen Rollen teilweise in Frage stellten.
7 Diskussion und Kommentar
Abschliessend gilt festzuhalten, dass für die Stadt Zürich die Säuglingsheime dank den Kleinkindern von zugewanderten Arbeiterinnen bis Mitte der 1970er Jahre gut belegt waren. Grund dafür waren verschiedene Ungleichheitsachsen, entlang derer die Mütter mehrfach diskriminiert wurden. Drei dieser Achsen decken sich in etwa mit den in Forschungen mit intersektionaler Perspektive am häufigsten herausgearbeiteten Kategorien «Geschlecht, Klasse und Ethnizität» (Walgenbach, 2007, S. 42). Die letzte Kategorie lässt sich für die vorliegende Analyse mit dem Begriff der Staatszugehörigkeit präziser benennen. Ergänzend kommt noch die Kategorie der Mutterschaft hinzu. Da das Zusammenspiel der Kategorien als «interdependent» verstanden wird, ist die Reihenfolge nicht hierarchisch gedacht. Stattdessen ist die Ordnung zufällig und dient lediglich dazu, die interdependenten Kategorien analytisch getrennt beschreiben zu können. Mit der ersten Kategorie, der Staatszugehörigkeit, lässt sich die Diskriminierung von zugewanderten Menschen aufzeigen. Die Betroffenen hatten einen prekären Aufenthaltsstatus, der meist direkt an die Erwerbstätigkeit geknüpft war. Zweitens kann anhand der Kategorie der Klasse aufgedeckt werden, wie Arbeitskräfte von schlechten Arbeitsverhältnissen, niedrigem Einkommen und damit verbundenen schlechten Wohnsituationen betroffen waren. Letzteres betraf zugewanderte Menschen besonders stark. Mit der dritten Kategorie, dem Geschlecht, wird deutlich, dass sich die Migrantinnen in einer Gesellschaft wiederfanden, die den Frauen die Emanzipation verwehrte. Viertens lässt sich an der Kategorie Mutterschaft zeigen, dass fehlende soziale Rechte die Mütter benachteiligten, es gab keinen Mutterschutz, sozialstaatliche
Betreuungsangebote fehlten und für Saisonnieren drohte die Ausweisung der Kinder. Das Zusammenspiel dieser verschiedenen Ungleichheitsachsen kann als Erklärung dafür gelesen werden, weshalb zugewanderte Arbeiterinnen ihr Kind nach der Geburt im Säuglingsheim unterbrachten.
Die vier Achsen lassen sich auch anhand der Konfiguration der Frau, der Migrantin, der Arbeiterin und der Mutter herausarbeiten. Die Migrantin wurde dafür kritisiert, dass sie dem Kind mit den Ferien im Ausland den «Trennungsschmerz» aufbürdete. Der Wohnort der «Gastarbeiterfamilie», gemäss Heimarzt Herkunft der Krankheiten, wurde zudem als Gegenort zum hygienisch sauberen Raum des Säuglingsheims konstruiert. Als Arbeiterin stand die Frau im Verdacht, ihre Erwerbstätigkeit den Pflichten als Hausfrau und Mutter vorzuziehen. Damit verbunden ist die Kritik, die Arbeiterin sei eine unerfahrene Mutter. Zudem wurde ihr vorgeworfen, nur wegen des Geldes zu arbeiten. Das wiederum steht in Verbindung mit der Markierung als Migrantin, die angeblich nur arbeitet, damit Geld ins Ausland geschickt werden kann und dazu die subventionierten Betreuungsplätze nutzt. Gleichzeitig galt sie als unangepasste Migrantin, die es wagte, das Säuglingsheim zu kritisieren und die mit ihrer Arbeitstätigkeit die gesellschaftliche Ordnung der Geschlechter zumindest teilweise in Frage stellte. Indirekt lässt sich daraus auch das vorherrschende Bild der Frau in der Schweiz ablesen, die in Abgrenzung zur als unangepasst markierten Migrantin und Arbeiterin, als bescheidene Hausfrau und gute Mutter sichtbar wird. In der ambivalenten Konfiguration seitens der Stadt und des Heimarztes zeigt sich somit eine mehrfache Abwertung der Betroffenen. Und doch scheint in diesen Konstruktionen ein emanzipatorisches Element auf. So agierten die betroffenen Frauen zum Teil konträr zu den gesellschaftlichen Erwartungen, indem sie sich kritisch gegenüber dem Heim positionierten und entsprechende Forderungen stellten.
Was die Belegung der Plätze in den Säuglingsheimen der 1970er Jahren angeht, kann festgehalten werden, dass dadurch die Erwerbsarbeit der Migrantinnen in prekären Anstellungsverhältnissen gesichert werden konnte. Da die Säuglingsheime für die Belegung der Plätze auf diese Kinder angewiesen waren, behielt die Stadtverwaltung die Zahlen der Zuwanderung im Blick und reagierte entsprechend mit der Reduktion von Plätzen und mit, im Vergleich zu Westdeutschland, späten Heimschliessungen. Die Stadt war so ein Teil eines Systems, das sowohl finanziell als auch rechtlich die Erwerbsarbeit beider zugewanderter Elternteile bzw. des alleinerziehenden Elternteils erzwang und die Umsetzung mit eigenen Einrichtungen ermöglichte. Insofern spielten die Säuglingsheime eine opportune Rolle in der Aufrechterhaltung des Systems der Arbeitsmigration der 1970er Jahre. Das in der Schweiz vorherrschende Ernährer-
Familienmodell blieb dabei vorerst unhinterfragt, denn die Schweizer Ehefrauen konnten, wie es von ihnen erwartet wurde, vorwiegend zu Hause bleiben, während die Migrantinnen die für Frauen vorgesehene, schlecht bezahlte und sozial kaum abgesicherte Arbeit übernehmen mussten.
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Biographische Angaben
Daniela Hörler, Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), Hochschule für Soziale Arbeit (HSA), daniela.hoerler@fhnw.ch, https://orcid.org/0009-0008-6190-443X