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Dieser Beitrag ist Teil des Dossiers 2024 «In gesellschaftlichen Widersprüchen.
Kontext und Geschichte der Sozialen Arbeit».
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Lukas Neuhaus und Roland Becker-Lenz
Zusammenfassung
Das Schweizerische Zivilgesetzbuch definiert als Zweckbestimmung von erwachsenenschutzrechtlichen Massnahmen die Erhaltung und Förderung von Selbstbestimmung. Gleichzeitig sollen das Wohl und der Schutz von Menschen gewährleistet werden, die dazu selbst nicht in der Lage sind. Diese gesetzliche Verpflichtung auf das Wohl und den Schutz wird in der Regel als Spannungsverhältnis zwischen Schutz und Selbstbestimmung gedeutet. In anderen Praxisfeldern wird eine solche Konstellation als ‹Doppeltes Mandat› begriffen. Im vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, dass sich das Spannungsverhältnis auflösen lässt, wenn die Massnahmen des Erwachsenenschutzes als pädagogische verstanden und in einer Arbeitsbündnislogik bearbeitet werden.
Schlüsselwörter: Erwachsenenschutz, Selbstbestimmung, Arbeitsbündnis, Professionalisierung, Doppeltes Mandat
Adult protection as a pedagogical task? The elimination of contradictory orientations in the working alliance
Summary
The Swiss Civil Code defines the purpose of adult protection measures as the preservation and encouragement of self-determination. At the same time, the well-being and protection of adults who are unable to provide this for themselves should be guaranteed. This legal obligation to ensure well-being and protection is generally interpreted as a tension between protection and self-determination. In other fields of practice, such a constellation is conceptualised as a ‘double mandate’. The article aims to show that this tension can be resolved if the measures of adult protection are understood as pedagogical and are dealt with in the logic of a working alliance.
Keywords: adult protection, self-determination, working alliance, professionalisation, double mandate
1 Einleitung
Der Erwachsenenschutz in der Schweiz ist eine durch das Zivilgesetzbuch (ZGB) und kantonale Gesetze geregelte, durch staatliche Behörden bzw. von diesen beauftragten Beistandspersonen bestimmte Praxis, die dazu dient, das Wohl und den Schutz von Menschen sicher zu stellen (vgl. Art. 388 Abs. 1 ZGB), die aufgrund von Schwächezuständen nicht in der Lage sind, sich selbst bzw. mit Unterstützung von nahestehenden Personen oder auch mit der Inanspruchnahme von Dienstleistungen um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Erwachsene haben die Möglichkeit, mit den gesetzlich im Rahmen der 2013 in Kraft getretenen ZGB-Reform geschaffenen Möglichkeiten der Patientenverfügung und des Vorsorgeauftrags für den Fall des Auftretens eines Schwächezustands Vollmachten zu erteilen bzw. zu bestimmen, was mit ihnen geschehen soll und wie gemäss ihren Interessen ihre Angelegenheiten geregelt werden sollen. Werden diese Möglichkeiten nicht genutzt, können gesetzlich vordefinierte Massnahmen des Erwachsenenschutzes errichtet werden. In den meisten Fällen handelt es sich um unterschiedliche Formen von Beistandschaften, die von Privatpersonen oder Berufsbeiständ*innen übernommen werden. Da diese Beistandschaften zum Teil mit Vertretungsbefugnissen für bestimmte Angelegenheiten einhergehen oder die Betroffenen sich zumindest die Begleitung oder Mitwirkung von Beiständ*innen bei der Regelung von Angelegenheiten gefallen lassen müssen und die Vertretungsbefugnisse eben nicht durch die Betroffenen im Rahmen von Patientenverfügungen oder Vorsorgeauftrag selbstbestimmt erteilt wurden, bedeuten die Massnahmen einen Eingriff in durch die Verfassung geschützte Grundrechte bzw. Selbstbestimmungsrechte von Betroffenen. Deshalb wird der Erwachsenenschutz auch unter dem Begriff des Eingriffssozialrechts gedeutet, es ist mit Blick auf das Handeln der Behörden und der Beiständ*innen die Rede von einer Gratwanderung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung (Fountoulakis & Rosch, 2016, S. 22) und von einer «Interessenabwägung zwischen fremdbestimmtem Schutz und Selbstbestimmung» (Fountoulakis & Rosch, 2016, S. 30). In unserem Aufsatz widmen wir uns der Frage, inwiefern dem Erwachsenenschutz nicht nur diese Schutz-, sondern auch eine pädagogische Funktion eingeschrieben ist.
Die Massnahmen des Erwachsenenschutzes können unseres Erachtens als pädagogische interpretiert werden, denn gemäss Art. 388 Abs. 2 ZGB besteht ihr Zweck darin, die Selbstbestimmung der betroffenen Personen zu «erhalten und [zu] fördern». Förderung von Selbstbestimmung bzw. Autonomie ist die klassische pädagogische Aufgabe schlechthin (vgl. Helsper, 2021, S. 177, der im Anschluss an Oevermann die stellvertretende Krisenlösung mit
ihrem Ziel der Bildung von Autonomie als Kernbegriff pädagogischer Professionalität bestimmt). Diese Aufgabe besteht allgemein darin, das jeweils angemessene Verhältnis von Schutz und Zumutung bzw. Gewährung von Selbstbestimmung zu bestimmen. Wir möchten mit unserem Beitrag aufzeigen, dass in dieser (sozial-)pädagogischen Perspektive auf das Feld des Erwachsenenschutzes ein in der Abwägung unterschiedlicher Interessenspositionen häufig als problematisch unterstelltes Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung und Schutz sich tendenziell auflöst und zu einer Frage der angemessenen Dosierung von zugemuteten oder gewährten Bewährungsmöglichkeiten wird.
Wir werden zunächst das Spannungsverhältnis analytisch betrachten, dann die pädagogische Perspektive darauf theoretisch entfalten, danach mit ausgewählten Fallbeispielen einige empirische Hinweise auf die Berechtigung dieser Perspektive geben und im Schlussteil unter der dargestellten Perspektive einen Blick auf das allgemeinere Problem von Hilfe und Kontrolle in der Sozialen Arbeit werfen.1
2 Das Spannungsfeld zwischen Schutz und Selbstbestimmung
Bezüglich der gesetzliche Zielprogrammierung des Erwachsenenschutzes mit den zwei Zielen, das Wohl und den Schutz von Betroffenen sicher zu stellen sowie deren Selbstbestimmung zu erhalten und zu fördern, ist – wie eingangs bereits festgestellt – in der Literatur häufig von einem Spannungsverhältnis bzw. einem Spannungsfeld die Rede. Nach Fountoulakis und Rosch (2016, S. 30) wird die «Interessensabwägung zwischen fremdbestimmten Schutz und Selbstbestimmung« und damit das «Spannungsverhältnis zwischen fremdbestimmten Schutz und Selbstbestimmung» durch eine grundrechtliche Eingriffssystematik strukturiert. Diese ermögliche «eine differenzierte Austarierung zwischen den z. T. widersprüchlichen Interessen im Einzelfall». In der von der Konferenz der Kantone für Kindes- und Erwachsenenschutz KOKES herausgegebenen «Praxisanleitung Erwachsenenschutzrecht» wird in Bezug auf die gesetzlichen Ziele von einem «Doppelgesicht der behördlichen Massnahmen» gesprochen (KOKES, 2012, S. 2). «Dieses Doppelgesicht der behördlichen Massnahmen zeigt das Spannungsverhältnis von selbstbestimmter Lebensführung und deren Grenzen zum Selbstschutz der betroffenen Person auf.» (KOKES, 2012, S. 2f.). Der Begriff Spannungsfeld taucht beispielsweise auch im Titel einer Kokes-Tagung im Jahre 2016 auf: «Kindes- und Erwachsenenschutz: Die Praxis im Spannungsfeld zwischen Schutz und Selbstbestimmung». Die Zitate sollen zeigen, dass in Bezug auf das Spannungsfeld eine Existenz von widersprüchlichen oder unterschiedlichen Interessen angenommen wird, die austariert bzw. gegeneinander
abgewogen werden müssen. Unter diesen Interessen ist einerseits das Interesse von Betroffenen zu verstehen und andererseits ein im Gesetz eingeschriebenes gesellschaftliches Interesse am Schutz von Personen. Dabei handelt es sich um eine Konstellation, die im Fachdiskurs Sozialer Arbeit zuweilen als «doppeltes Mandat» beschrieben wird (vgl. Böhnisch & Lösch, 1973).
Wenn ein Interessensgegensatz und damit einhergehend eine Spannung vorliegt, können analytisch zwei Fälle unterschieden werden: (1.) Das Subjekt der Selbstbestimmung möchte nicht vor den Herausforderungen einer selbstbestimmten Lebensführung geschützt werden, ein helfender bzw. schützender Akteur ist wegen des Vorliegens eines Schwächezustands aber zu solch einem Schutz verpflichtet. (2.) Das Subjekt der Selbstbestimmung möchte vor den Herausforderungen einer selbstbestimmten Lebensführung geschützt werden, ein zur Hilfe und Schutz verpflichteter Akteur muss jedoch dem Subjekt diese Herausforderungen aus pädagogischen Erwägungen zumuten. Wenn von dem ‹Spannungsfeld› zwischen Schutz und Selbstbestimmung die Rede ist, dürfte tendenziell eher die erste Möglichkeit in den Blick genommen werden, dass aufgrund des rechtlichen Rahmens und der entsprechenden Befugnisse der Behörden die Massnahmen notfalls gegen den Willen der Klient*innen errichtet werden müssen, um sie auch gegen ihren Willen zu schützen. Selbstbestimmung wird in dieser auf die Entscheidungssituation bezüglich der Errichtung von Massnahmen bezogenen Blickrichtung dann als ein Recht gedeutet, das gewährt werden oder auch entzogen werden muss. Selbstbestimmung als Recht ist aber nur eine Dimension des Begriffs, sie muss gleichzeitig auch als eine Fähigkeit verstanden werden. Nur so ergibt die gesetzliche Vorgabe der Förderung überhaupt Sinn, denn ein Recht kann nicht gefördert, sondern nur gewährt oder berücksichtigt oder allenfalls ausgebaut werden. Das Recht kann mithin nur dann sinnvoll genutzt werden, wenn die Fähigkeit zur Nutzung schon besteht, was keineswegs einfach vorausgesetzt werden kann. Wird Selbstbestimmung ausschliesslich als Recht verstanden, wie in den einschlägigen Kommentaren, Berichten, etc. üblich, werden – dem Zeitgeist durchaus entsprechend – entscheidungskompetente und souveräne Individuen unterstellt. Gerade im Feld des Erwachsenenschutzes aber ist in der Regel nicht davon auszugehen, dass Personen Entscheidungen autonom zu treffen imstande sind. Die Klientel befindet sich hier typischerweise in einer Krise und braucht Unterstützung im Sinne der Entwicklung der autonomen Anteile ihrer Lebenspraxis. Die angeordneten Massnahmen (üblicherweise Beistandschaften) zielen auch typischerweise auf eine dementsprechende Unterstützung, wobei die Aufträge an die Beistandspersonen in der Regel recht offen und vage formuliert
sind. Ob die Autonomieförderung gelingt oder nicht, hängt dann davon ab, ob es gelingt, ein Arbeitsbündnis mit den Klient*innen einzurichten. Dass etliche Klient*innen oft erst dann zum Fall für die Behörde werden, weil ihnen im sozialen Umfeld die Ressourcen für eine Autonomieentwicklung fehlen, kommt erschwerend hinzu, denn diese Ressourcen erweisen sich als nicht beliebig substituierbar. Beziehungen in der Logik von Verwandtschaft oder Freundschaft lassen sich behördlich nicht anordnen, wenn sie naturwüchsig fehlen. Die Beziehungsform, die dieser naturwüchsigen Freundschaft am nächsten kommt, wäre die von der widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von diffusen und spezifischen Anteilen geprägte Beziehungsform, die für professionelle Arbeitsbündnisse typisch ist (vgl. Oevermann, 2013; 1996). Diese Arbeitsbündnisse sind durch folgende Merkmale charakterisiert: Es wird gemeinsam auf ein Ziel hingearbeitet, hier die Verbesserung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Es wird in der Logik der Hilfe zur Selbsthilfe gehandelt, d. h. den Klient*innen werden nicht alle Handlungsherausforderungen abgenommen, sondern sie werden fallspezifisch soweit unterstützt, wie es zur Bewältigung einer Handlungsherausforderung erforderlich ist. Dies schliesst ein, dass die Klient*innen vor zu grossen Herausforderungen geschützt werden, indem diese stellvertretend für sie bearbeitet werden. Arbeitsbündnisse können nur gelingen, wenn die Klient*innen sich den Fachkräften anvertrauen, im doppelten Sinne, dass sie ihren Schwächezustand ungeschönt darstellen und sich auf die Unterstützung der Fachkräfte einlassen. Dieses Anvertrauen ist nur möglich auf der Basis von Vertrauen in die Kompetenz und Loyalität der Fachkräfte gegenüber den Interessen der Klient*innen. Die Fachkräfte haben in einer Weise zu handeln, dass es nicht zu einer Beschämung oder anderweitigen Verletzung der Würde und Integrität der Klient*innen kommt. Die Fachkräfte haben den Klient*innen ihrerseits Vertrauen entgegenzubringen und sie bei dem Umgang mit Herausforderungen, die sie ihnen fallspezifisch dosiert zumuten müssen, zu stärken.
Das in erster Linie juristische, auf die Entscheidungssituation und den eingriffsrechtlichen Charakter des Erwachsenenschutzrechts fokussierende Verständnis von Selbstbestimmung als Recht steht nun nur scheinbar gleichbedeutend neben einem sozialpädagogischen Verständnis der Förderung von Selbstbestimmung im Sinne der Autonomieentwicklung. In Art. 388 Abs. 2 ZGB wird die sozialpädagogische Konnotation des Begriffs zwar deutlich, zumal in der französischen Fassung des Gesetzes explizit von ‹autonomie› die Rede ist,2 aber sie findet nur vereinzelt Entsprechung in den Kommentaren und in der Praxis. Diese ist pragmatisch auf den Zwangskontext ausgerichtet, Selbstbestimmung wird daher in der Regel einseitig im Sinne eines Abwehrrechts
der betroffenen Person gegenüber möglichen Zwangsmassnahmen verstanden. Dass es oft Zwangskontexte gibt, steht ausser Frage, entscheidend ist allerdings die bildungstheoretisch gut begründete Annahme, dass Autonomieentwicklung unter Zwangsbedingungen nur bedingt möglich ist.3 An dieser Stelle geraten die beiden sich auf das Gesetz stützenden Interpretationen der Selbstbestimmung in einen Widerspruch. Soll Selbstbestimmung tatsächlich gefördert und nicht nur erhalten werden, ist eine Überwindung des Zwangscharakters daher wo immer möglich anzustreben. Die Beziehungen zu betroffenen Personen müssten den Charakter von Arbeitsbündnissen annehmen, in deren Rahmen sich die Person als ganze Person prinzipiell freiwillig an die Verwirklichung des Bildungsprozesses bindet. Gefördert werden kann Selbstbestimmung – verstanden als Fähigkeit, im Modus der Autonomie eigenständig Entscheidungen zu treffen und deren Konsequenzen zu tragen – also nur in einem zwangsfreien Setting, sie lässt sich nicht erzwingen. «Bildung ist immer nur als Selbst-Bildung möglich.» (Helsper, 2021, S. 181) Behördliche Massnahmen (wie Beistandschaften) müssen sich daher am Ideal des Arbeitsbündnisses (Oevermann, 2013; Becker-Lenz & Müller-Hermann, 2013) orientieren, nur hier ist eine Bindung der ganzen Person und damit eine Entwicklung der Persönlichkeit möglich. Indem im Arbeitsbündnis die Fähigkeit zur Selbstbestimmung gefördert wird, wird gleichzeitig die Notwendigkeit von Schutz geringer. Die behördliche Praxis der KESB ist zwar nicht identisch mit der Praxis der Beistände, aber für die allfällige Anordnung einer Massnahme muss die Behörde dennoch in der Lage sein zu entscheiden, ob es sich im jeweiligen Fall um eine pädagogische Problemstellung handelt oder nicht. Das Dosierungsproblem stellt sich für beide Praxen. Die Behörden müssen bei der Festlegung der gesetzlich vorgesehenen Art der Beistandschaft auch diese pädagogischen Gesichtspunkte berücksichtigen.
Das Wohl und der Schutzbedarf als gesetzliche Zielbestimmungen (Art. 388 Abs. 1 ZGB) sind grundsätzlich stellvertretend objektivier- und bestimmbar, aber die subjektiven Bedürfnisse und Interessen der Betroffenen sind dabei zu berücksichtigen. Artikel 406 ZGB verpflichtet die Beistandspersonen die Interessen der Betroffenen zu würdigen. Dabei darf nicht pauschal unterstellt werden, dass Erwachsene in jedem Fall ihr Interesse artikulieren können. Dies ist gerade im Feld des Erwachsenenschutzes eine Fiktion (Voll, 2016), die sich auf das angemessene Mass von Schutz und Zumutung auswirkt. Es muss zwingend rekonstruiert werden, ob diese Fähigkeit zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechts im Einzelfall überhaupt besteht. Diese Entwicklungsperspektive muss spätestens in der Mandatsführung zum Tragen kommen. Hier
ist aber empirisch eine zumindest potenziell problematische Engführung zu erkennen: Anstelle von Fachleuten, die die Fähigkeit zur Selbstbestimmung im Rahmen von sozialpädagogischen Arbeitsbündnissen kompetent fördern könnten, werden zunehmend – und gerade mit Verweis auf die Achtung der Selbstbestimmung der betroffenen Personen, die sich dies wünschen – private Mandatstragende gesucht, die über die Kompetenz zur arbeitsbündnislogischen Bearbeitung des Autonomieproblems in der Regel nicht verfügen. Hier kommt es in der Tat zu einer Interessenabwägung: Soll das artikulierte Interesse der Person an einer privaten Beistandschaft höher gewichtet werden oder die Notwendigkeit der Förderung der eigenen Selbstbestimmungsfähigkeit? Letztere Lösung steht unter Paternalismusverdacht, weil normativ über den Kopf der betroffenen Person hinweg so entschieden wird, wie angenommen wird, dass sie entschieden hätte, wenn sie bereits dazu fähig gewesen wäre. Erstere Lösung dagegen wird in der Regel nicht problematisiert – schliesslich ist es der Wunsch der betroffenen Person –, sie ist aber unter mindestens zwei Perspektiven ebenfalls nicht unproblematisch: Einerseits wird einseitig das artikulierte Interesse fokussiert in Absehung des Wohls,4 andererseits besteht strukturell ein Anreiz, die private Lösung aufgrund von Ressourcen gegenüber den Berufsbeistandspersonen den Vorzug zu geben.
Das Spannungsfeld, das üblicherweise unter der Bezeichnung «Schutz vs. Selbstbestimmung» figuriert (vgl. z. B. Rosch & Wider, 2013; Becker-Lenz et al., 2018), erweist sich in Anbetracht des gesetzlichen Ziels, Selbstbestimmung zu erhalten und zu fördern, also als Spannungsfeld zwischen Schutz und Zumutung bzw. Gewährung von Selbstbestimmung. Einfacher könnte man dies auch als Spannungsfeld zwischen Schutz und Bewährungsanforderungen bezeichnen. Es geht bei der Umsetzung der Massnahmen des Erwachsenenschutzes u. E. nicht in erster Linie darum, zwischen Schutz und Selbstbestimmung eine Interessenabwägung vorzunehmen, wie dies in der Regel suggeriert wird, sondern um die angemessene Dosierung von Schutz und Bewährung. Zwischen Schutz und Selbstbestimmung abwägen zu müssen, kann notwendig sein, wenn eine schutzbedürftige Person diesen Schutz nicht will. Es ist dann abzuwägen, ob diese Interessensbekundung ‹vernünftig› ist oder nicht. Mit der Förderung von Selbstbestimmung hat dies aber nichts zu tun. Dazu braucht es eine längerfristige Perspektive mit dem Ziel der Autonomieentwicklung. Das Spannungsfeld zwischen Schutz und Zumutung ist eine Frage der Dosierung, es lässt sich nicht einseitig auflösen, ohne dass Schaden angerichtet wird. Schutz ohne Bewährungschancen verhindert das stets mit einem gewissen Risiko verbundene Gewähren bzw. Zumuten von Erfahrungen und Entwicklungsmöglichkeiten;
Bewährungsgelegenheiten zuzumuten oder zu gewähren ohne Schutz läuft auf ein verantwortungsloses Sich-selbst-Überlassen ohne Moderierung von Risiken hinaus. Aufschlussreich in Bezug auf die Unterscheidung zwischen der Interessensabwägung angesichts einer zu treffenden Entscheidung und der Förderung von Selbstbestimmung sind die Ausführungen bei Annemarie Mol (2008), die zwei unterschiedliche Logiken in Bezug auf Entscheidungen identifiziert: eine ‹logic of choice› einerseits, die der oben dargestellten Idee entspricht, dass Individuen prinzipiell zu selbstbestimmten Entscheidungen fähig sind und ihnen daher die Verantwortung für diese Entscheidungen vollständig zu übertragen ist; zum anderen eine ‹logic of care›. Care5 könnte hier als die Kunst der Dosierung von Schutz und Zumutung interpretiert werden, hier wird Entscheidungsfreiheit nicht isoliert absolut gesetzt, sondern in eine unterstützende Beziehung eingebettet. Beistandschaft sollte immer eine solche unterstützende Beziehung in der Logik der Hilfe zur Selbsthilfe sein. Eine Soziale Arbeit, die Autonomie zu erhalten und zu fördern hat, darf die Klientel mit ihrem Recht auf selbstbestimmte Entscheidungen nicht allein lassen, sondern soll sie primär bei der Entwicklung ihrer Entscheidungsfähigkeit unterstützen. In der Spätmoderne sind Entscheidungen zunehmend überfordernd (Berufswahl, Partnerschaft, Handyvertrag). Autonomie im Sinne einer souveränen Bewältigung alltäglicher Zumutungen ist daher überaus anspruchsvoll und strukturell prekär. Mol (2008) leitet ihre Überlegungen ab von der Überforderung der Patient*innen bei medizinischen Entscheidungen, strukturell ist es für alltägliche Entscheidungen aber dasselbe. Die gemäss Mol zumindest im Westen generalisierte ‹logic of choice› unterstellt auch für Beziehungen zu Professionen zunehmend ein Kundenverhältnis (Mol 2008, Kap. 2) und reduziert die professionelle Beziehung damit auf ihre spezifischen Anteile. Entscheidungsfreiheit, die nicht in eine (professionelle oder naturwüchsige) Care-Beziehung eingebettet ist und dadurch in ihren Risiken abgesichert werden kann, birgt stets die Gefahr der krisenhaften Überforderung.
Die angemessene Dosierung von Schutz und Bewährungsanforderungen ist die klassische pädagogische Aufgabe, die – wenn sie Fachkräften anvertraut wird – im Modus des Arbeitsbündnisses erfolgen muss, wie Oevermann (1996; 2013) unseres Erachtens schlüssig begründet. Aufgabe der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ist es daher, fallspezifisch die pädagogischen und somit arbeitsbündnislogisch zu erbringenden Aufgaben zu identifizieren und an entsprechend qualifizierte Dienste zu delegieren. Nicht jede Aufgabe der Sozialen Arbeit ist eine sozialpädagogische, es sind durchaus auch Aufgaben denkbar, die ohne Arbeitsbündnis erledigt werden können, wie z. B. die
blosse Vermögensverwaltung. Diese Aufgaben sind dann aber nicht im eigentlichen Sinn professionalisierungsbedürftig (zur Unterscheidung vgl. Oevermann 1996; zur unterschiedlichen «Dilemmaexposition» von professionellen Subfeldern vgl. Neuhaus, 2011).
3 Empirische Hinweise
Es folgen an dieser Stelle einige Fallbeispiele aus zwei kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojekten zum Erwachsenenschutz,6 die zur Illustration des Spannungsfelds zwischen Schutz und Zumutung dienen. Beurteilt werden sollen jeweils die behördlichen Entscheide im Lichte des gesetzlichen Ziels der Erhaltung und Förderung von Selbstbestimmung. Die Beispiele sind nicht zu einer Typologie ausgearbeitet, sondern sollen zur Plausibilisierung des pädagogischen Charakters erwachsenenschutzrechtlicher Aufgaben beitragen.
a) Den ersten Fall nennen wir Jan Lehner7 (vgl. Becker-Lenz et al., 2018, S. 184–189): Die bestehende kindesschutzrechtliche Massnahme soll als erwachsenenschutzrechtliche weitergeführt werden, weil die Beiständin weiterhin Unterstützungsbedarf bzgl. Finanzen, Administration, Ordnung und Alltagsbewältigung identifiziert. Hier besteht die Aufgabe der KESB darin zu beurteilen, ob es tatsächlich eine behördliche Massnahme braucht oder ob es sich beim Schwächezustand nicht um die ganz normale Überforderung handelt, vor die sich 18jährige ohnehin gestellt sehen. Jugendlichen müssen auch Entwicklungsaufgaben zugemutet werden, damit ihre Autonomisierung gelingen kann. In der Regel wird dies mehr oder weniger angemessen von Eltern bzw. einem naturwüchsigen primärsozialisatorischen Umfeld gewährleistet. Gegebenenfalls muss diese Aufgabe aber durch behördliche Massnahmen substituiert oder ergänzt werden. Bei Jan Lehner ist diese Frage nicht so einfach zu beantworten, obwohl seine Entwicklung im schulischen Bereich und auch sonst positiv zu beurteilen ist, bleibt sie strukturell gefährdeter als in einem naturwüchsigen Setting, das Familiensystem ist prekär, weshalb er in einem betreuten Wohnsetting untergebracht ist. Es ist also sorgfältig abzuwägen, welche Aufgaben einer Beiständin übertragen werden. Im vorliegenden Fall ist mit der gewählten Massnahme (Vertretungsbeistandschaft) das Problem verbunden, dass hiermit möglicherweise die Intervention strukturell zu sehr in Richtung Schutz dosiert wird. Im Zweifelsfall – besonders bei ungenügenden zeitlichen Ressourcen oder unangemessener organisationaler Einbettung – besteht die Tendenz, dass die mit Vertretungsbefugnis ausgestattete Beiständin zu viel übersteuert und dem Klienten zu wenig zumutet. Mit einer
Begleitbeistandschaft hingegen wäre das Risiko der Überforderung (zu viel Zumutung) verbunden, falls die Ressourcen der Beiständin nicht für eine angemessene Begleitung ausreichen. Die Ressourcenproblematik dürfte dazu führen, dass im Zweifelsfall eher zu wenig Risiken eingegangen werden. Man kann sagen, dass die Praxis aus strukturellen Gründen das Verhältnis tendenziell zu risikoarm dosiert, entweder weil die KESBs die Beistände nicht überfordern wollen oder weil die Beistände aufgrund einer problematischen Fehlerkultur dazu neigen, sich abzusichern, um nicht für Fehler verantwortlich gemacht werden zu können. In Hinblick auf das Reputationsproblem, dem sich die Behörden gegenübersehen (Kuenzler et al., 2022) und der Neigung der Medien zu Schuldzuweisungen (Warner, 2015), sind solche Sorgen sicherlich nachvollziehbar. Die Forderungen der KOKES nach mehr Ressourcen (KOKES, 2021, S. 30–35) sind daher mit Nachdruck zu unterstützen.
b) Zum Fall von Jan Lehner findet sich in unserem Datenmaterial ein Kontrastfall, den wir Miriam Meyer genannt haben (vgl. Becker-Lenz et al., 2018, S. 189–201): Auch für Miriam Meyer besteht eine kindesschutzrechtliche Massnahme, deren Überführung in eine erwachsenenschutzrechtliche geprüft werden soll. Die Klientin wünscht sich nach wie vor Unterstützung, ihre Beiständin glaubt allerdings, dass sie den Anforderungen gewachsen ist. Der ebenfalls involvierte Sozialdienst warnt davor, dass sich die Situation verschlimmern könnte, falls die Unterstützung wegfällt. Die KESB entscheidet sich das nicht unerhebliche Risiko einzugehen und die Massnahme aufzuheben. Es wird hier zum Wohl der Person eine Zumutung riskiert. Möglicherweise sinnvoll wäre dennoch eine Art ‹diffuse Begleitbeistandschaft›, die auf Abruf und bei Bedarf einfach ‹da› ist und unterstützende Begleitung bieten kann. Der Umstand, dass relativ selten eine Begleitbeistandschaft nach Art. 393 ZGB errichtet wird,8 kann zweierlei Gründe haben: Entweder es wird in den in Betracht kommenden Fällen jeweils subsidiär genügend Unterstützung geboten, etwa durch das soziale Umfeld oder durch andere Massnahmen, so dass sich behördliche Massnahmen erübrigen, oder der pädagogische Aspekt des erwachsenenschutzrechtlichen Auftrags wird zu wenig beachtet.
c) Ein dritter ähnlicher Fall ist derjenige von Biljana Matić. Bei der jungen Frau bestand vor dem 18. Lebensjahr eine Erziehungsbeistandschaft. Mit dem Erreichen des Mündigkeitsalters endete diese Kindesschutzmassnahme und es wurde gemäss Erwachsenenschutzrecht eine kombinierte Beistandschaft bestehend aus einer Begleitbeistandschaft und einer
Vertretungsbeistandschaft mit Vermögensverwaltung errichtet. Die junge Frau fühlte sich noch von manchen Angelegenheiten, z. B. administrativen und finanziellen, aber auch mit Stresssituationen im Alltag überfordert und beantragte gemeinsam mit ihrer Erziehungsbeiständin die Erwachsenenschutzmassnahme, wobei sie wünschte, dass die Beiständin auch weiterhin im Amt bleiben sollte. Insgesamt ist im Hinblick auf die Tätigkeit der Beiständin zusammenzufassen, dass diese ihre Tätigkeit vor allem in einer Art Rückversicherung für Biljana Matić und teilweise auch als Kontrolle verstand, funktional in den inhaltlichen Bereichen der Beistandschaft jedoch wenig Initiative im Hinblick auf die Verselbständigung zeigte. Insbesondere bei der Beendigung der Ausbildung, bei der es zwischenzeitlich Probleme gab, unterliess sie es, ihre Klientin dazu anzuhalten, die Ausbildung zu beenden. Nachdem Biljana Matić in einer Betreuerin der Invalidenversicherung eine Ansprechpartnerin für viele Fragen gefunden hatte, erschien es der Beiständin sinnvoll, die Beistandschaft einvernehmlich aufheben zu lassen. In diesem Fall wurde das Autonomiestreben der Klientin von der Beiständin anerkannt und eine Schutzfunktion ausgeübt, darüberhinaus wäre aber auch eine pädagogische Unterstützung der Klientin sinnvoll gewesen.
d) Für das vierte Beispiel blenden wir zurück in die 1960er Jahre: Hier haben wir in unserem Datenmaterial den Fall des bevormundeten Erich Gruner gefunden, der offenkundig Probleme hat, sich in eine betriebliche Hierarchie einzufügen und daher immer wieder nach kurzer Zeit die Stelle verliert. Der Vormund behandelt ihn – dem Zeitgeist entsprechend – als Querulant, die Massnahmen sind repressiv, es wird ihm aufgrund seiner Alkoholsucht Einweisung in Besserungsanstalten angedroht, falls er sich nicht endlich den Erwartungen an eine moralische Lebensführung füge. Gruner schaltet eines Tages ein Inserat in der Zeitung, in dem er selbständige Dienstleistungen im Bereich Carrosserie- und Malerarbeiten anpreist. Darin liesse sich nun durchaus ein autonomes Bestreben erkennen, das notorische Autoritätsproblem durch geschäftliche Selbständigkeit zu lösen. Der Vormund verbietet ihm aber sofort dieses Ansinnen und unterbindet die Geschäftstätigkeit. Es wird kein Risiko eingegangen und keine Gelegenheit zur Bewährung gesucht, sondern rein nach einer Schutzlogik gehandelt, die sich darüber hinaus primär an den potenziell geschädigten Geschäftspartnern und an der Gemeindekasse orientiert. Die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit wird vom Vormund nicht als potenzieller Ausdruck von Autonomisierung interpretiert, weshalb er den Klienten brüsk zurechtweist.
Eine sozialarbeiterische Intervention jenseits von Disziplinierung scheint in diesem Fall nicht im Rahmen des Denkbaren.
e) Martha Baumgartner ist ein Fall, der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt (1956–1997), und in dem immer wieder starke Autonomisierungsbestrebungen von Seiten der Klientin erkennbar sind, die aber ebenso regelmässig scheitern, mithin ist hier allerdings auch sehr wenig Unterstützung durch den Vormund erkennbar. Aufschlussreich ist diese Akte insbesondere deshalb, weil die Person des Vormunds bzw. der Vormundin im Laufe der Jahre mehrfach wechselt. Es werden auf diese Weise Nuancen erkennbar in Bezug auf die Dosierung von Schutz und Zumutung. Die Dosierung ist insgesamt recht klar paternalistisch, sie tendiert deutlich mehr in Richtung Schutz, Martha Baumgartner wird mit den Zumutungen, die sie sich selber stellt, oft allein gelassen, die Vormunde bleiben überwiegend passiv, zuweilen gar zynisch. Es bleibt unklar, ob die Autonomisierungsbestrebungen durch eine angemessenere Mandatsführung mehr Erfolg gehabt hätten. Die explizite gesetzliche Zielbestimmung der Autonomieförderung gibt es erst seit 2013, heute müssten solche Überlegungen zwingend berücksichtigt werden.
f) Kevin Santiago ist ein Fall einer Behörde einer kleineren Stadt in der Deutschschweiz. Er stammt aus jüngster Zeit. Der Klient wünscht sich die Weiterführung seiner umfassenden Beistandschaft, diese wird aber umgewandelt in eine kombinierte Massnahme aus einer Vertretungsbeistandschaft für die Bereiche Wohnen und Finanzen sowie einer Begleitbeistandschaft für den Bereich Gesundheit. In diesem Bereich wird der Klient als handlungsfähig beurteilt. Die Massschneiderung von Massnahmen ermöglicht hier die Dosierung von Risiken. Kevin Santiago wird zumindest teilweise gezwungen, von seiner Selbstbestimmung Gebrauch zu machen, obwohl er dies gar nicht will. Auch dies ist eine pädagogische Grundfrage, die ihre Entsprechung im Erwachsenenschutz findet: Entscheidend ist nicht, ob eine Person Hilfe wünscht, sondern ob sie Hilfe benötigt.
g) In einem Fall aus dem Jahr 2015 aus dem Einzugsgebiet einer ländlichen KESB findet sich eine u. E. problematische, weil kontrafaktische Unterstellung von Autonomie: Die Behörde entscheidet, den 1987 geborenen Sascha Weininger umfassend zu verbeiständen, da diesem aufgrund von psychischen Beeinträchtigungen dauerhafte Urteilsunfähigkeit attestiert wird. Für das laufende erwachsenenschutzrechtliche Verfahren wird auf die Ernennung eines Verfahrensbeistands explizit verzichtet, denn Weininger habe sich bereits Gehör verschafft und es sei davon auszugehen, dass er in der Lage sei, seine Rechte selber zu wahren. Hier wird die Fähigkeit
zur selbstbestimmten Wahrung von Rechten unterstellt, in der gleichen Verfügung wird Weininger aber dauernde Urteilsunfähigkeit attestiert und die Handlungsfähigkeit entzogen.
Aus diesen nur knapp dargestellten Fällen sollte erstens deutlich geworden sein, dass Behörden nach unterschiedlichen Logiken entscheiden und es keine homogene Praxis des Erwachsenenschutzes gibt. Zweitens wird ersichtlich, dass der von uns hergeleitete pädagogische Charakter des Erwachsenenschutzes sowohl von Behörden als auch von Beistandspersonen nicht durchgängig berücksichtigt ist, was in den Behörden auch damit zu tun haben dürfte, dass die hierbei notwendige sozialpädagogische Expertise gegen die dominante juristische Perspektive einen schweren Stand hat. Mit der Professionalisierung der Behörden ist zwar die Interdisziplinarität formal gestärkt worden, ob sich dies aber auch in der Praxis auswirkt, ist empirisch nach wie vor umstritten (vgl. z. B. Emprechtinger & Thönissen Chase, 2022; Wilhelm, 2021; Becker-Lenz et al., 2017).
4 Allgemeinere Überlegungen zum Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle und zur Frage der Professionalisierungsbedürftigkeit der Sozialen Arbeit
In den hier vorgetragenen Überlegungen wird das Spannungsfeld von Schutz und Selbstbestimmung im Rahmen einer als pädagogisch verstandenen Unterstützung von Klient*innen in einem Arbeitsbündnis zur Frage einer fallangemessenen Dosierung von Schutz und Zumutung von Bewährungsanforderungen. Die pädagogische Komponente kommt ins Spiel, wenn es nicht lediglich um die Wahrung von Selbstbestimmung, sondern auch um die Förderung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung geht. Die Bildung von Autonomie bzw. Selbstbestimmung als Fähigkeit setzt – sofern sie nicht naturwüchsig in der Familie und weiteren diffusen Sozialbeziehungen erfolgt – ein Arbeitsbündnis voraus, in dem die Klient*innen sich mit Einsicht in dessen Notwendigkeit beteiligen.
Die Professionalisierungsbedürftigkeit dieser Tätigkeit besteht nicht im Umgang mit widersprüchlichen Handlungsanforderungen im Spannungsfeld von Schutz und Selbstbestimmung, denn dieses vermeintliche Spannungsfeld erweist sich als Dosierungsproblem von Schutz und Zumutung von Bewährungsanforderungen, welches gar nicht widersprüchlich ist. Vielmehr besteht sie in der fallspezifischen Dosierung der Unterstützung im Rahmen des Arbeitsbündnisses, in dem dann allerdings ein Umgang mit Komponenten widersprüchlicher Sozialbeziehungen gefunden werden muss. Unsere Überlegungen lassen sich unserer Ansicht nach zum Teil auch auf das allgemeinere Problem der Vereinbarkeit von Hilfe und Kontrolle in der Sozialen Arbeit übertragen.
Die Begriffe Hilfe und Kontrolle werden z. T. als widersprüchliche und schwer zu vereinbarende Handlungsorientierungen und damit als Professionalisierungshindernis
verstanden. Das mag auch so sein, wenn die Ziele von Hilfe und Kontrolle nicht übereinstimmen, d. h. bezogen auf eine zu bewältigende Handlungsherausforderung Unterstützung gewährt wird und gleichzeitig ein Kontrollhandeln stattfindet, das andere Ziele verfolgt oder zumindest im Hinblick auf die Ziele der Unterstützung nicht funktional ist, so dass Hilfe und Kontrolle nicht zu einer funktionalen Handlungslogik integriert werden können.
Helfende und kontrollierende Tätigkeiten können aber auch zwei notwendige und aufeinander bezogene Arbeitsprinzipien im Arbeitsbündnis sein. Jede Form von Unterstützung bzw. Hilfe beinhaltet stets auch kontrollierende Aspekte (vgl. Becker-Lenz, 2005). Analog zur Dosierung von Schutz und Bewährungsanforderungen ist die angemessene Dosierung der Hilfe zu kontrollieren. Zu viel wäre schädlich, die Hilfe würde nicht mehr im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe wirken, sondern die Klient*innen in Abhängigkeit halten oder diese sogar noch verschlimmern. Ebenso schädlich wäre zu geringe Hilfe, weil dann das Problem der Klient*innen nicht genügend effektiv bekämpft würde. Zu kontrollieren ist auch die Einhaltung der Regeln des Arbeitsbündnisses, insbesondere die Mitwirkung der Klient*innen nach Massgabe ihrer Möglichkeiten. Ist ein Arbeitsbündnis hergestellt, besteht zwischen dieser Hilfe und diesen Formen von Kontrolle kein Interessensgegensatz, jedenfalls nicht im Grundsatz, allenfalls können Differenzen in Bezug auf die angemessene Dosierung bestehen. Wird jedoch eine Form von Kontrolle ausgeübt, die dysfunktional von der Hilfe abgekoppelt ist und ganz anderen Zwecken als die Hilfe dient, dann entsteht in der Tat das oben erwähnte Spannungsfeld von Handlungsorientierungen, die dem Interesse der Klient*innen dienen und solchen, die dies nicht tun. Die Sozialarbeiter*innen haben in diesem Fall tatsächlich zwei unterschiedliche Aufträge bzw. zwei unterschiedliche Mandate zu erfüllen. Beide Aufträge zu erfüllen, ist nur ausserhalb eines Arbeitsbündnisses möglich, dadurch verliert indes die Hilfe ihre Logik der Hilfe zur Selbsthilfe. Es gibt daher – sofern der Auftrag als eine pädagogische Aufgabe identifiziert werden kann, die folglich eine arbeitsbündnislogische Bearbeitung erfordert – keinen Widerspruch mehr zwischen unterschiedlichen ‹Mandaten›. Konstitutiv für eine gelingende Soziale Arbeit ist dann, im Rahmen eines einzigen Auftrages Arbeitsbündnisse zu initiieren, die angemessene Dosierungen zwischen den miteinander verbundenen Arbeitsprinzipien (Hilfe und Kontrolle) erlauben.
Die grosse Bedeutung, die der Begriff des doppelten Mandates im Fachdiskurs der Sozialen Arbeit hat, deutet auf eine Professionalisierungsproblematik hin. Der Berufsstand ist offenkundig nicht in der Lage, Kontrollaufträge abzulehnen, die für die Hilfe nicht funktional sind. Hier wäre zu fragen, weshalb bestimmte Kontrollaufgaben – z. B. im strafrechtlichen
Massnahmenvollzug – nicht von anderen Berufen wie der Polizei oder Sicherheitsdiensten wahrgenommen werden sollen, anstatt sie der Sozialen Arbeit aufzubürden (vgl. Becker-Lenz, 2010). Der Weg zu einer Professionalisierung der Sozialen Arbeit müsste darin bestehen, für das Arbeitsbündnis dysfunktionale Ansinnen und Aufträge, die das Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle erst erzeugen, abzuwehren; Hilfe und Kontrolle bzw. Schutz und Zumutung als eine Frage der angemessenen Dosierung auf dem Weg zur Autonomieentwicklung im Rahmen der Gestaltung eines Arbeitsbündnisses zu verstehen, darin die Kernaufgabe und Kernkompetenz der Sozialen Arbeit zu sehen und alle Aufgaben, die nicht zu diesem Kern gehören, z. B. wirtschaftliche Sozialhilfe, als nicht professionalisierungsbedürftige Anteile der Tätigkeit an andere Berufe abzugeben. Professionalisierungsbedürftig ist gewissermassen nur der sozialpädagogische Kern der Sozialen Arbeit, wobei wir diesen Kern durchaus auch in denjenigen Feldern sichten, die – wie die Bewährungshilfe oder die Beistandstätigkeit – klassischerweise als Felder der Sozialarbeit angesehen werden.
Literatur
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Biographische Angaben
Lukas Neuhaus, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, lukas.neuhaus@fhnw.ch
Roland Becker-Lenz, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, roland.becker@fhnw.ch