[Articles] Einflussnahme der Sozialdienste auf Rentenabklärungen der Invalidenversicherung

Benedikt Hassler und Christophe Roulin (2025)

Zusammenfassung
Die vergangenen Reformen der Invalidenversicherung (IV) haben zu einer restriktiveren Praxis der Rentenvergabe geführt. Diesbezüglich stellt sich die Frage, wie Sozialdienste auf diese veränderte Praxis der IV reagieren. Dieser Frage wurde anhand einer konkreten Fallbeschreibung, die 31 Sozialdiensten im Rahmen qualitativer Interviews zur Bearbeitung vorgelegt wurde, nachgegangen. Die Resultate zeigen, dass die Sozialdienste versuchen, das Abklärungsverfahren zu beschleunigen, die Klient*innen in ihrer Mitwirkungspflicht zu unterstützen und gegen abschlägige Entscheide rechtlich vorzugehen.

Schlüsselwörter: Sozialhilfe, Armut, Invalidenversicherung, Schweiz, Vignettenstudie

How social service agencies try to influence the pension decisions of the Swiss disability insurance

Recent reforms of the disability insurance in Switzerland have aimed to reduce the number of disability pensions. This raises the question of how social service agencies respond to this change in the disability insurance system. This question was answered based on 31 qualitative interviews with social service professionals. The interviews were based on a specific case description. Results show that the social services agencies try to speed up the clarification process, support the client in their duty to cooperate, and take legal action against negative pension decisions.

Keywords: social assistance, poverty, disability insurance, Switzerland, vignette study

1 Ausgangslage

Die soziale Sicherheit in der Schweiz beruht auf verschiedenen Sozialversicherungen, die durch die öffentliche Sozialhilfe ergänzt werden. Die einzelnen Institutionen des fragmentierten Sozialstaats, wie etwa die Arbeitslosenversicherung, die Invalidenversicherung und die Sozialhilfe sind aufgrund dieser Organisationsform eng miteinander verflochten. Diese Verflechtung hat zur Folge, dass Gesetzesänderung bei einer Sozialversicherung Auswirkungen auf das ganze Gefüge der sozialen Sicherung haben. Sichtbar wurde dies

Beginn Seite 2

beispielsweise im Zuge der Einführung neuer Elemente einer aktivierenden Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik seit Mitte der 1990er Jahre, in deren Rahmen die Arbeitslosenversicherung, die Invalidenversicherung und die Sozialhilfe wechselseitig Anreize und Sanktionen einführten (Bonvin & Perrig, 2020, S. 145; Hassler & Studer, 2016, S. 176; Koch, 2016, S. 41–49; Streckeisen, 2012, S. 61 ff). Während die politischen Akteure bei der Arbeitslosenversicherung und der Invalidenversicherung bestimmen können, wer zu diesen Sozialversicherungsleistungen in welchem zeitlichen Rahmen Zugang hat, ist die Situation bei der Sozialhilfe eine fundamental andere. «Sie hat all jene Haushalte zu übernehmen, die bei den Sozialversicherungen ihre Ansprüche verlieren oder erst gar nicht durchsetzen können.» (Knöpfel, 2005, S. 56–57) Dies hängt mit der subsidiären Logik der Sozialhilfe zusammen. Sie bedeutet, dass eine Person nur dann Anspruch auf Sozialhilfe hat, wenn sie sich «nicht selbst helfen kann, und auch von Dritten keine oder nicht rechtzeitig Hilfe erhält» (SKOS, 2021, A.3.2). Die Frage der Zuständigkeit ist insbesondere deshalb relevant, weil die verschiedenen Institutionen aus unterschiedlichen finanziellen Quellen gespiesen werden. So handelt es sich bei der Invalidenversicherung um eine bundesweite obligatorische Versicherung, die überwiegend durch Lohnabgaben und Beiträge von Arbeitgebenden finanziert wird (Rosenstein, 2020), während für die Sozialhilfe in der Regel die Gemeinden und vereinzelt die Kantone mittels Steuergelder aufkommen (Mösch Payot, 2014, S. 1413). Es geht also bei der Frage der Zuständigkeit nicht nur darum, welche Institution für die «Fälle» zuständig ist, sondern auch, welche Gelder für die Kosten verwendet werden. Nicht zuletzt ist die Frage der Zuständigkeit auch für die Klient*innen zentral, da die finanziellen Leistungen, die leitenden Prinzipien und die Unterstützungsmassnahmen zwischen den einzelnen Institutionen stark variieren. Die Sozialhilfe ist eine befristete Unterstützung, die individuell auf den Bedarf der Menschen in einer Notlage zugeschnitten ist und ihnen hilft, diese zu überwinden. Sie folgt dem Finalprinzip, was bedeutet, dass ihre Leistungen unabhängig von den Ursachen der Notlage gewährt werden (SKOS, 2021, A.3.). Die Sozialversicherung operieren demgegenüber nach dem Kausalprinzip und tragen weitgehend die finanziellen Folgen von Risiken wie Arbeitslosigkeit, gesundheitsbedingter Erwerbsunfähigkeit oder Alter.
Der vorliegende Artikel fokussiert auf das Verhältnis der Sozialhilfe zur Invalidenversicherung. Bei diesen beiden Institutionen ist die Abgrenzung der Fälle und die Frage der Zuständigkeit besonders oft umstritten und Übergänge sind häufig vorkommend (eine Übersicht aller Übergänge in der sozialen Sicherung bei Erwerbslosigkeit präsentieren Fluder et al., 2009). Übergänge von der Sozialhilfe zur Invalidenversicherung ergeben sich beispielsweise dann, wenn Personen mit geringem oder keinem Vermögen während der langwierigen

Beginn Seite 3

Abklärungsverfahren bei der Invalidenversicherung Sozialhilfe beziehen und später eine Rente zugesprochen erhalten. Auch in umgekehrter Richtung gibt es Übergänge, etwa wenn sich Personen nach einem negativen Rentenentscheid der IV und dem Aufbrauchen des allenfalls vorhandenen eigenen Vermögens bei der Sozialhilfe anmelden müssen oder es im Rahmen einer Neubeurteilung der Invalidenrente zu einer Rentenanpassung oder -aufhebung kommt. Aufgrund der restriktiveren Rentenvergabe durch die IV-Stellen (vgl. Kapitel 2) haben sich die Übergänge in den letzten Jahren zum Nachteil der Sozialhilfe erhöht (Guggisberg & Bischof, 2020; Kieffer & De Berardinis, 2020).
Während einzelne Studien in der Vergangenheit quantifizierten, welche Auswirkungen die Veränderungen in der Gesetzgebung zur IV auf die Anzahl der Übergänge haben (vgl. Kapitel 2), wurde bislang weitgehend ausgeklammert, inwiefern sich daraus Folgen für das konkrete Handeln in den Sozialdiensten ergeben. Der vorliegende Beitrag geht ebendieser Frage nach. Zur Beantwortung der Fragestellung wird zunächst die Ausgestaltung der Sozialhilfe in der Schweiz erläutert und inwiefern die Gesetzgebung zur Invalidenversicherung ein wichtiger exogener Faktor für die Sozialhilfe darstellt (Kapitel 2). Anschliessend wird das methodische Vorgehen beschrieben (Kapitel 3). Daraufhin werden die Ergebnisse der empirischen Datenauswertung dargelegt (Kapitel 4), die im Schlusskapitel diskutiert werden (Kapitel 5).

2 Die Sozialhilfe in der Schweiz und ihr Verhältnis zur Invalidenversicherung

In der Schweiz existiert keine bundesweite Gesetzgebung in der Sozialhilfe. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Sozialhilfe sind die kantonalen Sozialhilfegesetze und -verordnungen, wobei letztlich mehrheitlich die Gemeinden für den Vollzug verantwortlich sind (SKOS, 2025). Auf Bundesebene ist in Art. 12 der Bundesverfassung lediglich das «Recht auf Hilfe in Notlagen» festgehalten. Für eine teilweise Harmonisierung sorgen die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), die in vielen Kantonen jedoch nicht verbindlich sind und an denen sich die Sozialdienste unterschiedlich konsequent orientieren (Roulin & Hassler, 2023). Angesichts der geringen gesetzlichen Normendichte in den Sozialhilfegesetzgebungen (Mösch Payot, 2014) bestehen für die Fachkräfte in der Sozialhilfe grosse Ermessensspielräume. Die geringe gesetzliche Normendichte wird in der Regel damit begründet, dass die Soziale Arbeit aufgrund der sehr heterogenen Lebenslagen der Sozialhilfebeziehenden und der Nicht-Standardisierbarkeit der Hilfe und Unterstützung individuelle Lösungen treffen müsse. Hinzu kommt, dass die Sozialdienste sehr unterschiedlich organisiert sind. Fluder und Stremlow (1999, S. 91) unterscheiden zwischen Gemeinden, in denen die Verwaltung oder der*die Gemeindeschreiber*in

Beginn Seite 4

die Sozialhilfe übernimmt, Gemeinden mit einem eigenen Sozialdienst und Gemeinden, welche die Aufgaben der Sozialhilfe in Teilen oder vollständig an regionale Sozialdienste übertragen. Unterschiedlich ist nicht nur die Organisationsform der Sozialdienste, sondern auch die Qualifikation der dort tätigen Personen (Nadai et al., 2015, S. 31) sowie die Frage, welches Mitspracherecht die Sozialhilfebehörden bei Entscheiden haben (Maeder & Nadai, 2004, S. 32).
Die gesetzlichen Regelungen zur Invalidenversicherung sind eine wichtige Kontextbedingung für die Sozialhilfe. Im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte haben sich die Bestimmungen der Invalidenversicherung massgeblich verändert (Ferreira, 2020). So wurde im Rahmen der 4. IV-Revision der Zugang zu Renten eingeschränkt und Regionalärztliche Dienste (RAD), d. h. zentralisierte Abklärungsstellen, geschaffen (Nadai et al., 2019, S. 62). In der 5. IV-Revision stand der Arbeitsplatzerhalt durch Massnahmen wie die Früherkennung und die Frühintervention im Fokus (Bolliger et al., 2012; Hassler, 2021, S. 37) und in der 6. IV-Revision ging es unter anderem um die Überprüfung und Anpassung bestehender IV-Renten (Probst et al., 2015; Schär et al., 2011).
Die genannten Revisionen des Invalidenversicherungsgesetzes haben eine deutliche Wirkung erzielt. So ist die Zahl der Neurenten im Vergleich zu den Anmeldungen bei der Invalidenversicherung rückläufig (Guggisberg & Bischof, 2020), was angesichts der politischen Bestrebungen zur finanziellen Sanierung der Invalidenversicherung als Erfolg zu werten ist. Offen bleibt die Frage, ob die Menschen, die keine Rente erhalten, erwerbstätig sind oder von einer anderen Institution des Sozialstaats unterstützt werden. Schon seit Beginn der Reformen steht die Frage im Raum, inwieweit durch diese Reformen eine Verlagerung von Fällen von der Invalidenversicherung in die Sozialhilfe ausgelöst wird. Eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen hielt bereits 2006 fest, dass eine Verlagerung von der Invalidenversicherung in die Sozialhilfe zu beobachten sei (Modetta, 2006, S. 10). Ebenso kam eine Untersuchung im Auftrag der Städteinitiative Sozialpolitik zum Schluss, dass die Rückerstattungen aus Sozialversicherungen abgenommen haben bzw. dass weniger Fälle aufgrund von Sozialversicherungsleistungen abgelöst werden konnten, was auf die verschärfte IV-Rentenpraxis zurückgeführt wurde (Salzgeber, 2006, S. 25–26; 2008, S. 22). Erstmals schweizweit und quantitativ untersucht wurde die Verlagerung durch eine vom Bundesamt für Sozialversicherungen in Auftrag gegeben Studie. Diese wies eine substanzielle Verlagerung nach. So stieg der Anteil der Personen, die drei Jahre nach ihrer Anmeldung bei der Invalidenversicherung Sozialhilfe beziehen von 11,6% in der Kohorte 2006 auf 14,5% in der Kohorte 2013 (Guggisberg & Bischof, 2020, S. 37). Gleichzeitig erhöhte sich der Anteil der Personen, die zwei Jahre nach der Rentenaufhebung Leistungen der Sozialhilfe

Beginn Seite 5

beziehen von 16,4% in der Kohorte 2008 auf 21,5% in der Kohorte 2015 (Guggisberg & Bischof, 2020, S. 55).
Die beschriebene Neuausrichtung der IV führt demnach zweifelsohne
zu einer Verlagerung von Klient*innen von der Invalidenversicherung zur Sozialhilfe, was für die betroffenen Personen einschneidend ist, da die finanzielle Unterstützung unterschiedlich, die gesellschaftlichen Zuschreibungen je nach unterstützender Institution variieren und IV-Renten – im Gegensatz zu Leistungen der Sozialhilfe – bundesweit nicht rückerstattungspflichtig sind (Rotzetter, 2023, S. 188). Für die Sozialdienste bedeutet diese Entwicklung, dass sie es zunehmend mit Klient*innen zu tun haben, die gesundheitlich beeinträchtigt sind, was neue Anforderungen an das professionelle Handeln mit sich bringt. Kaum diskutiert wurde bislang, wie Sozialdienste mit dieser veränderten Ausgangslage umgehen. Angedeutet wurde in der Forschungsliteratur, dass Sozialdienste vereinzelt beträchtliche personelle und finanzielle Ressourcen in Beschwerden zu abschlägigen Rentenentscheiden der IV-Stellen stecken und Anstrengungen unternehmen, die Klient*innen an die Invalidenversicherung zu vermitteln (Fluder et al., 2009, S. 13; Hassler, 2021, S. 197; Kieffer & De Berardinis, 2020, S. 13).

3 Methodisches Vorgehen

Für die Sozialhilfe ist neben der Subsidiarität die Individualisierung ein wichtiges Prinzip. Dieses Prinzip besagt, dass «Hilfeleistungen [in] jedem einzelnen Fall im Rahmen des Ermessens und der rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst» werden müssen (SKOS, 2021, A.3.3). Für Forschung und Evaluation im Bereich der Sozialhilfe bedeutet ebendieses Prinzip, dass die Ausrichtung von materiellen Leistungen und persönlicher Hilfe zwischen den Sozialdiensten nur mit grossem Aufwand verglichen werden kann, da diese stets auf den Einzelfall bezogen ist. Dies führt dazu, dass der Vollzug in der Sozialhilfe quantitativ kaum verlässlich erhoben werden kann. Um dieser Problematik zu begegnen, wurde eine qualitative Vignettenstudie (Miko-Schefzig, 2022; Schnurr, 2003) durchgeführt, die von Schweizer Stiftungen finanziert wurde. Im Rahmen der Studie wurden 31 Sozialdiensten aus den Kantonen Thurgau (n = 5), Schaffhausen (n = 6), St. Gallen (N = 7), Zürich (n = 6) und Aargau (n = 7) im Rahmen persönlicher Interviews zwei Fallvignetten zur Bearbeitung vorgelegt, wobei die Thematik des IV-Rentenbezugs lediglich in einer der beiden Vignetten zur Sprache kam. Die Studie konzentrierte sich auf Kantone der Deutschschweiz. Bei der Auswahl der Kantone wurde darauf geachtet, die Heterogenität der Sozialhilfe zu berücksichtigen. So ist beispielsweise die rechtliche Verankerung der SKOS-Richtlinien in den untersuchten Kantonen verschieden (SKOS, 2025, S. 5) und die Sozialhilfequote variiert in den betrachteten Kantonen zwischen 2,9% im Kanton Schaffhausen und 1,1% im

Beginn Seite 6

Kanton Thurgau (BFS, 2024). Innerhalb der Kantone wurden bei der Rekrutierung Sozialdienste unterschiedlicher Grösse und Organisationsform berücksichtigt. Bei der Erstellung der Vignetten wurde darauf geachtet, dass diese «anschlussfähig an die Lebenswelt der befragten Personen» (Miko-Schefzig, 2022) sind. Das heisst, es sollten Fälle sein, welche von den befragten Personen routiniert bearbeitet werden können, also als typische Fälle in der Sozialhilfe gelten. Die Interviews wurden zwischen Juni 2022 und März 2023 geführt und dauerten zwischen 60 und 120 Minuten. Die interviewten Personen waren alle in der wirtschaftlichen Sozialhilfe tätig und werden nachfolgend qua Funktion, unabhängig von ihrer Aus-, Weiterbildung oder Berufserfahrung in der Sozialhilfe, als Fachpersonen bezeichnet. Eine der beiden Fallvignetten thematisierte die Situation des 58-jährigen Lukas Riesen, der vor vier Jahren seine Anstellung als Aussendienstmitarbeiter einer Versicherung verloren hat und nun nach erfolgloser Arbeitssuche und dem Aufbrauchen seiner Ersparnisse in der zuständigen Gemeinde einen Sozialhilfeantrag stellt. Bei Riesen wurde eine mittelschwere Depression diagnostiziert, weshalb ihn der Hausarzt bei der zuständigen IV-Stelle angemeldet hat. Der Rentenentscheid war gemäss Vignette zum Zeitpunkt der Anmeldung bei der Sozialhilfe noch ausstehend. Insgesamt war die Fallvignette ca. eine halbe A4-Seite lang (vgl. für die vollständige Vignette Roulin & Hassler, 2023). Im Rahmen der Interviews wurden die Fachkräfte gebeten, Lukas Riesens Sozialhilfebudget zu berechnen sowie die persönliche Hilfe zu planen. Ergänzende Informationen zur Fallbearbeitung wurden mittels eines Interviewleitfadens erhoben. Die Gespräche wurden digital aufgezeichnet, zusammenfassend transkribiert und strukturiert-inhaltsanalytisch ausgewertet (Mayring, 2010).

4 Ergebnisse

Im Ergebniskapitel wird in einem ersten Schritt beschrieben, wie die befragten Fachkräfte den Fall Lukas Riesen interpretieren und wie sie seine Gesundheit und die Aussichten auf Arbeitsintegration einschätzen (Abschnitt 4.1). Nachfolgend wird dargelegt, welche Massnahmen die Fachkräfte in Bezug auf Riesen vorsehen, um seine Chancen auf eine IV-Rente zu erhöhen. Dabei wird auch die Zusammenarbeit mit weiteren involvierten Akteuren thematisiert (Kapitel 4.2). Abschliessend wird aufgezeigt, welche Schritte die Fachkräfte im Umgang mit den kantonalen IV-Stellen planen, um einen raschen und positiven Rentenentscheid herbeizuführen (Kapitel 4.3).

4.1 Ersteinschätzung des Falles «Lukas Riesen» durch Sozialdienste

Zunächst schilderten viele Fachpersonen beim ersten Durchlesen der Fallvignette, der Fall Riesen sei keine Seltenheit. Menschen in der Sozialhilfe hätten

Beginn Seite 7

häufig gesundheitliche Probleme, was auch durch die empirische Datenlage bestätig wird (Kessler et al., 2021; Reich et al., 2015; Salzgeber, 2015).
Verstärkt wird der relative Anteil an Personen mit schlechter Gesundheit und geringen Chancen am Arbeitsmarkt nach Ansicht der befragten Fachpersonen durch die vergleichsweise gute Situation für Arbeitnehmende am Arbeitsmarkt und die damit einhergehenden tiefen Arbeitslosenzahlen, was dazu führe, dass vorwiegend jene Personen in der Sozialhilfe verbleiben, deren Integrationschancen besonders schlecht sind. Oder wie es eine interviewte Fachperson ausdrückte:

In der wirtschaftlichen Zeit, in der wir leben, ist nicht mehr die Arbeitslosigkeit der Hauptgrund für die Sozialhilfe, sondern gesundheitliche Themen. (Gemeinde 2_2)

Mehrere Fachpersonen vertreten diesbezüglich die Meinung, wer aktuell arbeiten wolle und auch gesundheitlich in der Lage sei zu arbeiten, der finde eine Stelle, was den Druck auf als arbeitsfähig eingeschätzt Personen erhöht. Von dauerhaftem Sozialhilfebezug betroffen sind deshalb nebst den Working Poor insbesondere «Menschen mit komplexen Problemlagen» (Kutzner, 2009, S. 17) oder «diffusen gesundheitlichen Problemen» (Kieffer & De Berardinis, 2020, S. 7). Bei Riesen ist es nach Ansicht einiger Fachpersonen insbesondere das fortgeschrittene Alter, das eine Arbeitsintegration zusätzlich erschwert.
Gross ist die Spannbreite der Aussagen dazu, wie die Erfolgsaussichten Riesens mit der Diagnose einer mittelschweren Depression hinsichtlich einer (Teil-)Rente bei der IV sind. So weist ein Sozialdienst darauf hin, die zuständige IV-Stelle habe «ein wenig den Ruf, erstmal einfach abzulehnen». Andere Fachpersonen argumentieren differenzierter und verweisen darauf, dass die IV bei einer mittelschweren Depression in der Regel keine Rente spricht. Wieder andere sind der Meinung, es stehe bei Lukas Riesen «nicht sehr schlecht um eine IV-Rente». Zugleich ist den Fachpersonen der meisten Sozialdienste bewusst, dass die Entscheide der IV nicht ausschliesslich auf Basis des gesundheitlichen Zustandes der angemeldeten Person gefällt werden, sondern dass hierbei das Verhalten der Personen und die Frage, welche Fachpersonen den Klient*innen im Abklärungsprozess zur Seite stehen und die Einflussnahme auf den Abklärungsprozess bei der Invalidenversicherung eine wichtige Rolle spielen.

4.2 Handeln in Bezug auf Lukas Riesen und dessen Unterstützungssystem

Die Rentenverfahren der IV sind sehr anspruchsvoll (Dummermuth, 2022) und ohne Unterstützung meist «nicht zu bewältigen» (SKOS, 2024, S. 7). Viele Sozialdienste

Beginn Seite 8

versuchen vor diesem Hintergrund, Riesen zu unterstützen und den Abklärungsprozess der Invalidenversicherung aktiv zugunsten des Klienten zu beeinflussen. So holen die meisten Sozialdienste von Lukas Riesen eine Auskunftsermächtigung oder eine Vollmacht ein, um mit der kantonalen IV-Stelle oder dem Hausarzt Kontakt aufnehmen zu können und um in der Lage zu sein, abzuklären, wie der aktuelle Stand des Verfahrens ist und ob allenfalls noch Unterlagen nachgereicht werden können, um die Chancen auf eine Invalidenrente zu erhöhen. Eine Sozialarbeiterin schildert dies wie folgt:

In diesem Fall würde ich mit der Vollmacht das Dossier einsehen und schauen, ob ich da eventuell noch andere Ärzte einbeziehen muss. Einfach schauen, dass das Dossier vollständig ist. Gerade beim Hausarzt auch schauen, hat er etwas übersehen, also gibt es neben seiner Diagnose auch noch ein Gebrechen, welches für die IV relevant ist. (Gemeinde 4_2)

Zentral im IV-Verfahren ist nebst dem vollständigen Dossier und dem Einbezug einer Vielzahl an medizinischen Fachpersonen auch das Mitwirken der Klient*innen im Verfahren. Klient*innen, die der Mitwirkungspflicht (Art. 28 ATSG) der IV nicht nachkommen, können ihren Rentenanspruch verlieren. So kann beispielsweise infolge des Nichterscheinens bei einem Termin das IVDossier geschlossen werden (SKOS, 2024, S. 4). Einzelne Sozialdienste nutzen die Auskunftsermächtigung deshalb, um Klient*innen an ihre Termine bei der Invalidenversicherung zu erinnern und sicherzustellen, dass sie ihre Mitwirkungspflichten im Rahmen der Rentenabklärung nicht verletzen und damit ihre Chancen auf eine Rente gefährden.

Und dann müssen wir schauen, dass die die Termine einhalten. Weil wenn die Schadensminderungspflicht nicht erfüllt wird und es eine Ablehnung gibt, dann kann man auf dem gleichen Krankheitsbild keine Anmeldung mehr machen. (Gemeinde 3_6)

Andere Sozialdienste gehen in ihrem Handeln über das blosse Erinnern hinaus und verfügen in einer Auflage, dass Riesen mit der zuständigen IV-Stelle und den Ärzt*innen kooperieren muss. Bei Nichterfüllen der Auflage kann Riesen die Sozialhilfe gekürzt werden (SKOS, 2021, F.2.1). Statt mit Sanktionen zu drohen, setzen einzelne Fachkräfte stärker auf Anreize und bezahlen Riesen für die Mitwirkung im IV-Verfahren und die Einhaltung aller Termine eine Integrationszulage, die für «Leistungen nicht erwerbstätiger Personen» vorgesehen sind, die ihre «soziale und/oder berufliche Integration» verbessern (SKOS, 2021, C.6.7.2).

Beginn Seite 9

Die Dienste belohnen damit konformes Verhalten bei Riesen finanziell und erhoffen sich dadurch die Chance auf eine Invalidenrente zu erhöhen. Ferner betonen Sozialdienste in einem Kanton, in dem Sozialhilfekosten zurückerstattet werden müssen, dass die durch das IV-Verfahren entstandenen Kosten nicht der Sozialhilfeschuld von Riesen zugerechnet würden und deshalb auch nicht rückerstattungspflichtig seien.
Im Handeln der Sozialdienste geht es aber nicht nur unmittelbar um die Beeinflussung von Riesen bezüglich seines Verhaltens im Rahmen der Rentenprüfung, sondern auch um die Frage, wer in den Abklärungsprozess bei der IV involviert ist und wie das Unterstützungssystem ausgestaltet ist. Im Fall Riesen wird kritisiert, dass der Hausarzt diesen bei der IV angemeldet hat und nicht eine auf psychische Erkrankungen spezialisierte Fachperson. Dies mindere Riesens Chancen auf Rente, wie der Leiter eines Sozialdienstes erläutert:

Dass der Hausarzt eine IV-Anmeldung gemacht hat, ist gar nicht gut. Der ist ein «Tubel» [schweizerdeutsche Bezeichnung für einen Idioten]. Das ist ganz gefährlich, was der da macht. Das sollte besser ein Facharzt sein. Das mit dem Hausarzt, das stört mich jetzt wirklich, ich kenn das eben. Die versuchen Psychopharmaka aus und machen Anmeldungen und wenn die IV das jetzt ablehnt und sie die 30 Tage Frist verpassen, dann hat er die Chance auf eine Rente für alle Zeiten verspielt. (Gemeinde 3_5)

Die Sozialdienste versuchen in diesen Fällen, die Chancen auf eine Rente der Invalidenversicherung durch das Nachreichen von Unterlagen zu erhöhen. Es wird die Überzeugung deutlich, dass das Resultat der Rentenabklärung bei der IV grundsätzlich davon abhängig sein kann, welche medizinischen Personen in die Anmeldung involviert sind (vgl. hierzu auch Hassler, 2021, S. 197– 198). Andere Sozialdienste schicken Riesen in erster Linie zu einem*einer Fachärzt*in, weil sie seine Krankheit angemessen behandeln lassen wollen. Hierbei kommt zum Ausdruck, dass einzelne Fachpersonen den Fokus auf die Verbesserung der gesundheitlichen Situation Riesens legen, ohne dabei in erster Linie an die Erhöhung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder an die Verbesserung der Aussichten auf eine Rente zu denken.

4.3 Handeln in Bezug auf die kantonalen IV-Stellen

Eine zentrale Problematik in Bezug auf die Abklärung bei der Invalidenversicherung ist die lange Dauer der Rentenabklärungsverfahren (vgl. hierzu auch Dummermuth, 2022; Wenger, 2018, S. 18). Diesbezüglich äussert eine Fachperson auch den Verdacht, die IV spiele auf Zeit, um Fälle loszuwerden.

Beginn Seite 10

Dies hat zur Folge, dass Personen beim Warten auf eine allfällige IV-Rente auf die Unterstützung durch die Sozialhilfe angewiesen sind, weil ihre Ersparnisse aufgebraucht sind und sie keinen Anspruch (mehr) auf Krankentaggelder haben (SKOS, 2024, S. 3). Bei einem positiven Rentenentscheid wird die Rente rückwirkend ausbezahlt und mit den Leistungen der Sozialhilfe verrechnet. Wenn die Person allerdings keine Rente bekommt, ist weiterhin die Sozialhilfe für die finanzielle Unterstützung zuständig. Um diesbezüglich Klarheit zu erhalten, haben die Sozialdienste in der Regel ein Interesse daran, den Abklärungsprozess zu beschleunigen und sie scheinen darin erfolgreich zu sein. Eine interviewte Fachperson äusserte sich beispielsweise dahingehend, dass es bei der IV manchmal etwas «harze». Wenn das Sozialamt nachfrage, komme «etwas mehr Dynamik in den Prozess» (Gemeinde 1_3). Dabei kommt die Ansicht zum Ausdruck, durch den Anruf bei der IV-Stelle den Abklärungsprozess beschleunigen zu können, was auch von anderen Diensten bestätigt wird.
Die Beschleunigung der Fallbearbeitung durch die IV ist nur ein von den Sozialdiensten verfolgtes Ziel. Darüber hinaus ist mit wenigen Ausnahmen allen Fachpersonen klar, dass Entscheide der IV-Stellen grundsätzlich überprüft werden müssen und dass es hierfür juristische Fachpersonen braucht. Die grossen Sozialdienste haben zu diesem Zweck eigene Rechtsabteilungen, die sich um die Überprüfung der IV-Entscheide und Einsprachen kümmern. In kleineren Sozialdiensten werden häufig spezialisierte Anwält*innen oder Kanzleien engagiert, die im Rahmen einer kostenpflichtigen Ersteinschätzung die Chancen einer Einsprache einschätzen.

Alle negativen Entscheide lassen wir vom selben Juristen prüfen. Die erste Prüfung kostet jeweils 1’500 Franken, diese wird in jedem Fall gesprochen. Da kann ich ihm eine Mail machen, er soll das Gutachten prüfen und er macht dies umgehend. Wenn es dann weitergeht, würde der Anwalt unentgeltlich Rechtspflege verlangen und dies wird meistens bewilligt. (Gemeinde 4_3)

Andere Sozialdienste nehmen die Dienste von Procap oder Pro Infirmis in Anspruch. Pro Infirmis unterstützt bei der Erstbeurteilung von IV-Entscheiden und übernimmt bei guten Erfolgsaussichten die Einsprache. Procap erstellt gegen eine Prüfgebühr von 400 CHF eine Ersteinschätzung und anschliessend melden die Sozialdienste die Klient*innen mit guten Erfolgschancen auf eine Rente als Mitglied an und zahlen die Jahresbeiträge als situationsbedingte Leistungen (SIL). Procap wird von mehreren interviewten Fachpersonen als günstig und fachlich kompetent eingeschätzt.

Beginn Seite 11

Teilweise haben Klient*innen wie Lukas Riesen, die erst seit kurzem von der Sozialhilfe unterstützt werden, auch Rechtschutzversicherungen abgeschlossen. In diesem Fall übernehmen Sozialdienste die Versicherungsprämien als situationsbedingte Leistungen und die Verfahrenskosten werden so gedeckt.
Insgesamt berichten die Sozialdienste kaum über Schwierigkeiten in der Finanzierung der Einsprachen. Auch jene, welche die entsprechenden Auslagen bei den Gemeinden bzw. Sozialbehörden beantragen müssen, geben an, dass diese die Kosten grundsätzlich übernehmen. Alle Akteure gehen scheinbar davon aus, dass die Kosteneinsparungen trotz des Aufwands enorm sein können. Auf den Punkt bringt dies der Leiter eines Sozialdienstes in folgendem Zitat:

Also ich sage, das ist eine der wichtigsten Aufgaben in der Sozialhilfe heute. Dass man diese IV-Verfahren gut begleiten kann. Und gar nicht aus dem Aspekt, dass die IV versucht, die Leute über den Tisch zu ziehen. Aber es ist eine Versicherung mit einer klaren politischen Ausrichtung, die nicht heisst, möglichst viele Renten zu sprechen. (Gemeinde 2_2)

Dementsprechend aktiv sind viele Sozialdienste in diesem Bereich und zeigen sich durchaus hartnäckig. Eine Gemeinde schildert, in einem Fall sieben Jahre gekämpft zu haben, eine andere führt aus, bei einem Fall habe es drei Anmeldungen gebraucht, bis es geklappt habe mit der Rente. Über diese Fälle wird durchaus mit einem gewissen Stolz berichtet, eine Beobachtung, die schon Maeder und Nadai (2004, S. 95) vor mehr als zwei Jahrzehnten und noch vor den Verschärfungen in der Gesetzgebung zur IV machten. Ein Sozialdienstleiter verweist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass es in den letzten zehn Jahren schwieriger geworden sei, Entscheide der IV noch zu «kippen», was auch in der Fachliteratur entsprechend diskutiert wird (Wenger, 2018).
Während die meisten Dienste in strittigen Fällen eine Erstprüfung des Falles vornehmen lassen und davon ausgehend entscheiden, berichten andere, grundsätzlich oder «in aller Regel» (Gemeinde 2_4) jeden negativen Entscheid anzufechten.

In diesem Fall würde man einen Anwalt einschalten. Das machen wir in allen Fällen. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass viele Entscheide gekippt werden konnten. (Gemeinde 3_2)

Einzelne Sozialdienste benennen auch die Grenzen bezüglich des Führens von IV-Verfahren. Die diesbezüglichen Überlegungen beziehen sich insbesondere auf die Ressourcen. Der Leiter eines Sozialdienstes führt dies wie folgt aus.

Beginn Seite 12

Ich strebe an, 50 Fälle pro 100 eingesetzte Stellenprozente (inkl. Sekretariat und Teamleitung). Mit dieser Fallzahl kann man beispielsweise so Abklärungen der IV-Entscheide machen. Bei 65 Fällen wird es dann schwierig. (Gemeinde 3_3)

Nebst den Ressourcen im Allgemeinen gibt es auch situative Gründe, weshalb Verfahren in einer bestimmten Zeitspanne nicht geführt werden. So führt derselbe Sozialdienstleiter aus, dass die zusätzliche Belastung des Sozialdienstes aufgrund der Menschen, die wegen des Kriegs in der Ukraine in die Schweiz geflüchtet sind, dazu geführt habe, dass die IV «gute Chance» habe «zum Durchkommen mit negativen Entscheiden» (Gemeinde 3_3).

Im Sample gibt es zwei Dienste, die ein grundlegend anderes Verhältnis zur IV haben und sich prinzipiell davon abgrenzen, gegen die IV-Entscheide vorzugehen. Ein für die Sozialhilfe zuständiger Gemeinderat erläutert beispielsweise, ihm fehle die Zeit und das Wissen, um diese Verfahren zu führen und eine andere Fachperson äussert sich skeptisch gegenüber psychischen Erkrankungen und sagt, dass solche durch eigene Willensleistung überwunden werden können. Die Zuständigen dieser beiden Gemeinden waren jedoch die Einzigen, die Lukas Riesen im IV-Verfahren gar nicht unterstützen und die Entscheide der IV prinzipiell akzeptieren würden. In beiden Fällen handelt es sich um Personen ohne spezifische Aus- und Weiterbildung in Sozialer Arbeit, die im Ehrenamt nur wenige Sozialhilfe-Dossiers führen.

5 Fazit und Diskussion

Im Sozialhilfevollzug der Schweiz gibt es in vielerlei Hinsicht erhebliche Unterschiede (Roulin & Hassler, 2023). Umso erstaunlicher ist, dass sich bezogen auf das Handeln in IV-Verfahren einheitliche Vorgehensweisen und Haltungen in den Diensten verschiedener Grösse und Organisationsform etabliert haben. Klare Unterschiede im Handeln der Sozialdienste innerhalb und zwischen den Kantonen lassen sich nicht feststellen. Mit Ausnahmen von zwei Befragten haben alle Fachkräfte ein klar definiertes Ablaufschema im Umgang mit Rentenabklärungen bei der IV. Obwohl sich die konkret etablierten Prozesse im Detail und in Abhängigkeit von den verfügbaren Ressourcen unterscheiden, zeigt sich doch eine zentrale Gemeinsamkeit darin, die IV-Entscheide kritisch zu überprüfen und auch die rechtlichen Verfahren mit der IV nicht zu scheuen. Kürzlich hat die SKOS diese Praxis den Sozialdiensten auch in einem Positionspapier empfohlen (SKOS, 2024). Zentral ist diesbezüglich, dass der IV-Rentenbezug sowohl für die Gemeinden, die Fachpersonen als auch für die Klient*innen im Vergleich zum Sozialhilfebezug vorteilhaft ist. Von den Gemeinden wird die IV-Rente bevorzugt, weil die Kosten dann von einem anderen Träger,

Beginn Seite 13

nämlich einer Sozialversicherung übernommen werden und so eine finanzielle Entlastung stattfindet und die Sozialhilfequote tiefer ausfällt. Die Fachpersonen haben ein Interesse an der Rentenanmeldung, weil der Sozialhilfe Instrumente und fachliche Kompetenzen fehlen, um Klient*innen mit starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen angemessen zu unterstützen. Für die Klient*innen ist es vorteilhaft, weil die finanziellen Leistungen der Invalidenversicherung mit einem allfälligen Anspruch auf Ergänzungsleistungen höher ausfallen als die der Sozialhilfe. Interessanterweise ist bei einigen Sozialdiensten im Umgang mit der IV ein gewisses «Übersteuern» feststellbar und zwar dahingehend, dass die Sozialhilfeverantwortlichen betonen, gegen jeden IV-Fall Rekurs zu erheben. Dieses Vorgehen ist weder fachlich noch ökonomisch sinnvoll. Zudem besteht hierbei die Gefahr, dass es zu einer Medikalisierung sozialer Probleme wie Erwerbslosigkeit kommt (Holmqvist, 2009).
Die Resultate zeigen deutlich, dass die Sozialdienste viele Ressourcen in die IV-Verfahren stecken. Wie bei allen Massnahmen und Interventionen müssen sich Sozialdienste diesbezüglich mit der Frage auseinandersetzen, welche nicht-intendierten Folgen ihr Handeln hat. Vor 20 Jahren konstatierten Maeder und Nadai, dass die föderale Organisation der Sozialhilfe in der Schweiz zu einem Ungleichheitsparadox führe. Die Sozialhilfe «[g]eschaffen um die grössten Härten sozialer Ungleichheit abzufedern und die Verelendung des ärmsten Teils der Bevölkerung zu verhindern, erzeugt (…) selber wieder Ungleichheit unter den Armen» (Maeder & Nadai, 2004, S. 177). Problematisiert wurden hierbei die unterschiedlichen Leistungen der Sozialhilfe aufgrund ihrer föderalen Struktur, was sich seither nicht wesentlich verändert hat (Knupfer et al., 2007; Roulin & Hassler, 2023). Die in diesem Text beschriebene Vorgehensweise bezüglich der Rentenabklärungen in der Invalidenversicherung weiten das Ungleichheitsparadox auf einen weiteren Bereich jenseits der Sozialhilfe aus, da auch durch diese Praxis soziale Ungleichheiten (re-)produziert werden. Sozialhilfebeziehende werden den empirischen Daten zufolge erfolgreich in Rentenverfahren unterstützt. Sie erhalten rechtliche Unterstützung und die Involvierung des Sozialdienstes führt zu einer Beschleunigung der Verfahren. Dies bedeutet eine Benachteiligung von Personen, die knapp oberhalb der Armutsgrenze in prekären finanziellen Verhältnissen leben oder die zur grossen Gruppe der Personen gehören, die Anspruch auf Unterstützung der Sozialhilfe hätten, ihren Anspruch jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht geltend machen und deshalb in der rechtlichen Auseinandersetzung mit der IV auf sich allein gestellt sind (Crettaz et al., 2009; Hümbelin, 2019; Schuwey & Knöpfel, 2014).
Letztlich ist das Führen der aufwendigen IV-Verfahren auch eine Frage der personellen Ressourcen. Studien zeigen, dass eine Reduktion der Fallquote

Beginn Seite 14

pro Sozialarbeiter*in in verschiedener Hinsicht vorteilhaft für Sozialdienste, Fachpersonen und Klient*innen sein kann (Eser Davolio et al., 2019; Höglinger et al., 2021). Eine ausschliessliche Fokussierung auf die Fallquote wird der Realität nicht gerecht, weil immer auch die Frage gestellt werden muss, welche Aufgaben die Mitarbeitenden eines Sozialdienstes konkret ausüben müssen. Während einige Fachpersonen beispielsweise zahlreiche Stiftungsgesuche schreiben müssen oder aufgrund unzureichender Mietzinslimiten viele Ressourcen für die Unterstützung bei der Wohnungssuche benötigen (Hassler & Roulin, 2023; Reflekt & Öffentlichkeitsgesetz.ch, 2024), ist die Arbeitsbelastung anderer Fachpersonen diesbezüglich geringer. Vor diesem Hintergrund müsste untersucht werden, wie viele finanzielle und personale Ressourcen Sozialdienste für die Verfahren mit den IV-Stellen aufwenden. Auf jeden Fall muss aus einer sozialarbeiterischen Perspektive Kritik daran geübt werden, wenn Sozialdienste die Verfahren mit der Invalidenversicherung als ihr Kerngeschäft beschreiben, anstatt ihr Handeln primär auf die Klient*innen und ihre Unterstützungssysteme auszurichten.

Literatur

BFS (2024). WSH: Unterstützungseinheiten, Sozial hilfebeziehende und Sozialhilfequote der wirtschaftlichen Sozialhilfe nach Kanton, 2023. https://dam-api.bfs.admin.ch/hub/api/dam/assets/33327808/master
Bolliger, Christian, Fritschi, Tobias, Salzgeber, Renate, Zürcher, Pascale & Hümbelin, Oliver (2012). Eingliederung vor Rente. Evaluation der Früherfassung, der Frühintervention und der Integrationsmassnahmen in der Invalidenversicherung. Bundesamt für Sozialversicherungen.
Bonvin, Jean-Michel, & Perrig, Luca (2020). Implementing social justice within activation policies: the contribution of the capability approach. In Anja Eleveld, Thomas Kampen, Josien Arts (Hg.), Welfare to Work in Contemporary European Welfare States. Legal, Sociological and Philosophical Perspectives on Justice and Domination (S. 139– 162). Policy Press.
Crettaz, Eric, Jankowski, Thomas, Priester, Tom, Ruch, Thomas, & Schweizer, Lukas (2009). Sozialhilfe- und Armutsstatistik im Vergleich. Konzepte und Ergebnisse. Bundesamt für Statistik. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken/publikationen.assetdetail.347105.html
Dummermuth, Andreas (2022). Die Sanduhr läuft langsamer – zulasten der Sozialhilfe.
Zeitschrift für Sozialhilfe(2/22), 32–33.
Eser Davolio, Miryam, Strohmeier Navarro Smith, Rahel, Gehrig, Milena & Steiner, Isabelle (2019). Auswirkungen der Falllastreduktion der Sozialhilfe auf Ablösgequote und Fallkosten – Entschleunigung zahlt sich aus. Schweizerische Zeitschrift für Soziale Arbeit, 25, 31–51. https://doi. org/10.5169/seals-855356
Ferreira, Cristina (2020). Invalidenversicherung (Reformen). In Jean-Michel Bonvin, Pascal Maeder, Carlo Knöpfel, Valerie Hugentobler, Ueli Tecklenburg (Hg.), Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik (S. 256–258). Seismo Verlag.

Beginn Seite 15

Fluder, Robert, Graf, Thomas, Ruder, Rosmarie & Salzgeber, Renate (2009). Quantifizierung der Übergänge zwischen Systemen der Sozia len Sicherheit (IV, ALV und Sozialhilfe). Bundesamt für Sozialversicherungen.
Fluder, Robert & Stremlow, Jürgen (1999). Armut und Bedürftigkeit : Herausforderungen für das kommunale Sozialwesen. Haupt.
Guggisberg, Jürg & Bischof, Severin (2020). Entwicklung der Übertritte von der Invalidenversicherung in die Sozialhilfe. Analysen auf Basis der SHIVALV_Daten. Bundesamt für Sozialversicherungen.
Hassler, Benedikt. (2021). Ambivalenz der Wiedereingliederung. Betriebliche und sozialstaatliche Integrationsmassnahmen aus der Sicht gesundheitlich beeinträchtigter Personen. Seismo. https://doi.org/10.33058/ seismo.30762
Hassler, Benedikt & Roulin, Christophe (2023). Umgang mit überhöhten Mieten in der Sozialhilfe. ZeSo. Zeitschrift für Sozialhilfe(4), 8–9.
Hassler, Benedikt & Studer, Tobias (2016). Arbeit ohne Lohn und andere Widersprüche rund um Arbeit. Widerspruch, 35(1), 175–186.
Höglinger, Dominic, Rudin, Melania & Guggisberg, Jürg (2021). Analyse zu den Auswirkungen der Reduktion der Fallbelastung in der Sozialberatung der Stadt Winterthur. Büro BASS.
Holmqvist, Mikael (2009). Medicalization of unemployment: individualizing social issues as personal problems in the Swedish welfare state. Work, employment and society, 23(3), 405–421. https://doi.org/10.1177/0950017009337063
Hümbelin, Oliver (2019). Non-Take-Up of Social
Assistance: Regional Differences and the Role of Social Norms. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 45(1), 7–33. https:// doi.org/10.2478/sjs-2019-0002
Jeger, Jörg (2019). «Der Mensch ist gesund». Gedanken eines Mediziners zu einer richterlichen Vermutung in BGE 144 V 50. https://www.unispital-basel.ch/fileadmin/unispitalbaselch/Bereiche/ Medizin/Asim/Fortbildungen/Archiv_Fortbildungen/2019/Der_Mensch_ist_ gesund_23_01_2019.pdf
Kessler, Dorian, Höglinger, Marc, Heiniger,
Sarah, Läsers, Jodok & Hümbelin, Oliver (2021). Gesundheit von Sozialhilfebeziehenden – Analysen zu Gesundheitszustand, – Verhalten, – Leistungsinanspruchnahme und Erwerbsreintegration. Schlussbericht zuhanden Bundesamt für Gesundheit. Berner Fachhochschule und Zürcher Hochschule für angewandet Wissenschaften.
Kieffer, David & De Berardinis, Simona (2020). Grundlagenpapier Gesundheit in der Sozialhilfe. Ansätze zum Umgang mit Gesundheitsfragen bei Sozialhilfebeziehenden in der Stadt Bern. Direktion für Bildung, Sozia les und Sport.
Knöpfel, Carlo (2005). Sozialhilfe zwischen Arbeitslosen- und Invalidenversicherung. In Rita Schiavi & Alex Schwank (Hg.), Invalidenversicherung und Behinderte unter Druck. Analysen, Diskussionen und Strategien für die Zukunft (S. 53–69). edition 8.
Knupfer, Caroline, Pfister, Natalie & Bieri, Oliver (2007). Sozialhilfe, Steuern und Einkommen in der Schweiz. SKOS. https://www.aramis.admin.ch/Default?DocumentID=694&Load=true
Koch, Martina (2016). Arbeits(un)fähigkeit herstellen. Arbeitsintegration von gesundheitlich eingeschränkten Erwerbslosen aus ethno grafischer Perspektive. Seismo Verlag.
Kutzner, Stefan (2009). Kann Sozialhilfe aktivieren? Über die Grenzen eines neuen sozial staatlichen Paradigmas. Sozial Aktuell (6), 16–18.
Maeder, Christoph & Nadai, Eva (2004). Organisierte Armut. Sozialhilfe aus wissenssoziologischer Sicht. UVK.
Mayring, Philipp (2010). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken (11., aktualisierte und überarbeitete ed.). Beltz Verlag. Miko-Schefzig, Katharina (2022). Forschen mit Vignetten. Gruppen, Organisationen, Transformationen. Beltz Juventa.
Modetta, Caterina (2006). Delphi-Studie zu Gründen für das verlangsamte Wachstum der IV-Neurenten. Synthesebericht im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen. BSV.

Beginn Seite 16

Mösch Payot, Peter (2014). § 39 Sozialhilfe. In Sabine Steiger-Sackmann & Hans-Jakob Mosimann (Hg.), Handbuch für die Anwaltspraxis. Recht der Sozialen Sicherheit (S. 1411–1453). Helbing und Lichtenhahn.
Nadai, Eva, Canonica, Alan, Gonon, Anna, Rotzetter, Fabienne & Lengwiler, Martin (2019). Werten und Verwerten. Konventionen der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen in Wirtschaft und Wohlfartsstaat. Springer VS.
Nadai, Eva, Canonica, Alan, & Koch, Martina (2015). … und baute draus ein großes Haus. Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) zur Aktivierung von Erwerbslosen. UVK.
Probst, Isabelle, Tabin, Jean-Pierre & Courvoisier, Nelly. (2015). De la réparation à la réversibilité. Un nouveau paradigme dans l’assurance invalidité? Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 41(1), 101–117.
Reflekt, & Öffentlichkeitsgesetz.ch (2024). Wohnen am Limit. https://reflekt.ch/recherchen/wohnen-am-limit/
Reich, Oliver, Wolffers, Felix, Signorell, Aandri & Blozik, Eva (2015). Health care utilization and expenditures in persons receiving social assistance in 2012: evidence from Switzerland. Global Journal of Health Science, 7(4), 1–11. https://doi.org/10.5539/gjhs.v7n4p1
Rosenstein, Emilie (2020). Invalidenversicherung. In Jean-Michel Bonvin, Pascal Maeder, Carlo Knöpfel, Valerie Hugentobler, Ueli Tecklenburg (Hg.), Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Seismo Verlag. https://doi.org/10.33058/seismo.30739
Rotzetter, Fabienne (2023). Soziale Unsicherheit. Auswirkungen ablehnender Rentenentscheide auf die Biographien von Betroffenen. Dissertation. Pädagogische Hochschule Freiburg. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:frei129-opus4-22097
Roulin, Christophe & Hassler, Benedikt (2023). Vergleich von Sozialhilfeleistungen in fünf Schweizer Kantonen. HarmSoz. Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. https://doi.org/10.26041/fhnw-5604
Salzgeber, Renate (2006). Kennzahlenvergleich zur Sozialhilfe in Schweizer Städten.
Berichtsjahr 2006. https://staedteinitiative.ch/cmsfiles/kennzahlenbericht_2006_d.pdf
Salzgeber, Renate (2008). Kennzahlenvergleich zur Sozialhilfe in Schweizer Städten. Berichtsjahr 2007. https://staedteinitiative.ch/cmsfiles/kennzahlenbericht_2007_d.pdf
Salzgeber, Renate (2015). Kennzahlenvergleich zur Sozialhilfe in Schweizer Städten. Berichtsjahr 2014, 13 Städte im Vergleich. Berner Fachhochschule.
Schär, Barbara, Jentzsch, Katrin & Cudré-Mauroux, Patrick (2011). Die IV-Revision 6a.
Soziale Sicherheit CHSS(5), 244–252.
Schnurr, Stefan (2003). Vignetten in quantitativen und qualitativen Forschungsdesigns. In Hans-Uwe Otto, Gertrude Oelerich, Michael Heinz-Günter (Hg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (S. 393–400). Luchterhand. Schuwey, Claudia & Knöpfel, Carlo (2014). Neues Handbuch Armut in der Schweiz. Caritas-Verlag.
SKOS (2021). SKOS Richtlinien. https://rl.skos. ch/lexoverview-home/l
SKOS (2024). Länge der IV-Verfahren. Massnahmen zur schnelleren beruflichen Integration. https://skos.ch/fileadmin/user_upload/ skos_main/public/pdf/Publikationen/ Positionen_Kommentare/2024_06_SKOS_
Position_Laenge_IV-Verfahren.pdf SKOS (2025). Monitoring Sozialhilfe 2024.
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe.
Streckeisen, Peter (2012). Wege zur neuen Prekarität: Die aktivierungspolitische Wende zwischen internationalem Trend und länderspezifischer Geschichte. In Karin Scherschel, Peter Streckeisen, Manfred Krenn (Hg.), Neue Prekarität. Die Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik – europäische Länder im Vergleich (S. 177–196). Campus.
Wenger, Susanne (2018). Zu krank für den Arbeitsmarkt, zu gesund für die IV. Zeitschrift für Sozialhilfe, 115, 20–21.

Beginn Seite 17

Autoren

Benedikt Hassler, Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), benedikt.hassler@fhnw.ch
Christophe Roulin, Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), christophe.roulin@fhnw.ch

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *