Daniela Reimer, Noëmi van Oordt und Alex Knoll (2025)
Zusammenfassung
Der Beitrag analysiert und diskutiert, wie verschiedene Akteur:innen der Schweizer Pflegekinderhilfe auf «Familie» Bezug nehmen. Er stützt sich dabei auf Befunde aus Gruppendiskussionen mit Fachpersonen der Pflegekinderhilfe, Interviews mit Pflegeeltern, Pflegekindern und leiblichen Kindern sowie einer Diskursanalyse von Mediendokumenten. Drei Dimensionen der Bezugnahme auf Familie sind zentral: Familie als normativer Rahmen, als Ort von Erziehung und Sozialisation und als Raum für positive emotionale Beziehungen. In allen Dimensionen zeigen sich Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Perspektiven, welche auf Spannungsfelder verweisen: während Medien und Fachpersonen normative Vorstellungen von Pflegefamilien betonen, zeigen sich Pflegefamilien selbst diverser; die explizite Pädagogisierung in Pflegefamilien kontrastiert mit der Vorstellung impliziter Familiensozialisation; emotionale Nähe ist eine umstrittene Norm. Insgesamt balancieren Pflegefamilien zwischen der Erwartung, «einfach Familie» zu sein und professionellen Anforderungen.
Schlüsselwörter: Pflegefamilie, Erziehung, Beziehung, Familienforschung, Diskursanalyse
The familial in foster families
Summary
The article analyses and discusses how various actors in Swiss foster care refer to “family”. It draws on findings from group discussions with foster care professionals, interviews with foster parents, foster children and biological children as well as a discourse analysis of media documents. Three dimensions of the reference to family are central: family as a normative framework, as a place of upbringing and socialisation, and as a space for positive emotional relationships. Discrepancies between the different perspectives are evident in all dimensions, pointing to areas of tension: while the media and professionals emphasise normative ideas of foster families, foster families themselves are more diverse; the explicit pedagogisation in foster families contrasts with the idea of implicit family socialisation; emotional closeness is a controversial norm. Overall, foster families balance between the expectation of “simply being a family” and professional requirements.
Keywords: foster family, upbringing, relationship, family research, discourse analysis
1 Einleitung
Etwa ein Drittel der fremdplatzierten Kinder in der Schweiz leben in Pflegefamilien (Seiterle, 2017). Damit ist die Pflegekinderhilfe zentraler Bestandteil des schweizerischen stationären Kinder und Jugendhilfesystems. Kantonal und regional wird Pflegekinderhilfe schweizweit verschieden gerahmt und ausgeformt mit Unterschieden bei den Rollen professioneller Akteur:innen (Beistände, Dienstleistungsanbietende), bei der Pflegefamilienformen, der Entschädigung von Pflegefamilien sowie bei der fachlichen Rahmung und dem Einbezug verschiedener Akteur:innen (Colombo et al., 2023; Reimer et al., 2023). Übergreifendes strukturelles Merkmal der Pflegekinderhilfe ist bei allen Unterschieden die Situierung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit (Gehres & Hildenbrand, 2008), in deren Kontext Pflegekinderhilfe stetig auf «Familie» Bezug nimmt. Diese Bezugnahme ist relevant, weil sich in ihr Spannungsfelder und Erwartungen widerspiegeln, die auf das gesamte System der Pflegekinderhilfe zurückwirken. Die Bezugnahmen zeigen sich sprachlich in den mit der Pflegekinderhilfe assoziierten Familienbegriffen «Pflegefamilie», «Pflegeeltern», «Pflegemutter», «Pflegevater», in wissenschaftlichen, öffentlichen und fachli chen Diskursen zum Status der Pflegefamilie sowie in Beschreibungen und Narrativen der verschiedenen Akteur:innen. Im vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekt «Bilder der Pflegefamilie und ihre Wirkungen auf Kooperationsprozesse in der Pflegekinderhilfe» konnte empirisches Material erhoben werden, das Pflegefamilien und Diskurse zu Pflegefamilien auf verschiedenen Ebenen in den Blick nimmt – öffentlicher Diskurs, Fachpersonendiskurs, die Per spektiven der Pflegekinder und der Pflegefamilienmitglieder auf den Alltag und das (Er)Leben (in) einer Pflegefamilie. Im Material werden mediale Bilder auf Pflegefamilien sowie Selbstbilder von Pflege familienmitgliedern sichtbar und in diesen Bildern wiederum Rekurse auf «Familie», die sich teils unterscheiden und abgrenzen lassen, teils überschneiden. Der vorliegende Text rekonstruiert die Bezugnahmen auf Familie aus den verschiedenen Materialsorten und Perspektiven und führt diese zusammen.
Im ersten Schritt wird dafür der wissenschaftliche Diskurs zur Pflegekinderhilfe untersucht und wie dieser auf Familie Bezug nimmt; dabei findet schwerpunktmässig der deutschsprachige Diskurs Berücksichtigung. Im Folgenden wird das Forschungsdesign der oben genannten Studie vorgestellt. Das Folgekapitel präsentiert Ergebnisse aus der Studie auf den Ebenen öffentlicher Diskurs, Fachpersonendiskurs sowie Perspektiven von Pflegeeltern, leiblichen Kindern in Pflegefamilien und Pflegekindern. Im Anschluss werden Überschneidungen und Differenzen herausgearbeitet. In den Ergebnissen zeigt sich, dass in den verschiedenen empirischen Materialien unterschiedlich auf Familie
rekurriert wird, was mit Spannungsfeldern für das System und die Beteilig ten einhergeht. Anhand der Ergebnisse wird unter Bezugnahme auf die Empirie und den wissenschaftlichen Diskurs in den Schlussfolgerungen aufgezeigt, welche Herausforderungen für die Pflegekinderhilfe in Forschung und Praxis hervorgehen und welche Bedeutung dies für die Weiterentwicklung des Feldes hat.
2 Theoriehintergrund
Der Begriff der Familie beschreibt strukturelle Merkmale und Kennzeichen einer bestimmten Lebensform. Zum Beispiel definieren Böhnisch & Lenz (1997, S. 28): «Das zentrale Kennzeichen von Familie ist die Zusammengehörigkeit von zwei (oder mehreren) aufeinander bezogenen Generationen, die zueinander in einer ElternKindBeziehung stehen. Von der KindPosition aus gesehen handelt es sich um die Herkunftsfamilie, von der ElterPosition aus um die Eigenfamilie» und ähnlich Hank et al. (2023, S. 2f): «Familie ist da, wo (mindestens) eine Generationenbeziehung besteht, die ein besonderes Verbundenheitsgefühl umfasst, und wo zwischen den Angehörigen verschiedener Generationen Leistungen füreinander erbracht werden.» Familialität bezeichnet mit Behrend (2018) die «haltgebenden Strukturen», die Familien oder z. B. Sippen für Kinder und andere Mitglieder erzeugen.
Pflegefamilien zeichnen sich dadurch aus, dass in der jüngeren Gene
ration mindestens ein Kind ist, das zu keinem der an der Familie beteiligten Erwachsenen in einem Abstammungsverhältnis steht. Weiter zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie «sozialpädagogisch mitarrangiert», begleitet und beaufsichtigt sind (Gassmann, 2018; Reimer et al., 2023). In der Kinder und Jugendhilfe nehmen Pflegefamilien eine Sonderrolle zwischen Privatheit und Institution ein, die im Kontext einer Betonung des Wertes des Familialen für fremdplatzierte Kinder Anerkennung findet (Richter, 2013). Die Bedeutung des Familialen verdichtet sich im Kontext von Pflegefamilien im subjektiven, fachlichen und wissenschaftlichen kontroversen Rekurs auf «Familie» und «Elternschaft» und den Erwartungen an diese. Dabei ist prägend für den Diskurs, dass die Bedeutungen von Familie und Familialität zwischen einer stärker deskriptivstrukturellen vs. stärker normativen Perspektive changieren. In der deskriptivstrukturellen Perspektive werden Strukturmerkmale von Pflegefamilien beschrieben und Merkmale, die den Mitgliedern in diesen Strukturen Halt geben. In der normativen Perspektive werden (vermeintlich) positive Qualitäten des Familialen für die Kinder betont und nicht oder nur wenig kritisch reflektiert: So sehen Pflegekinder, Pflegeeltern und Fachpersonen neuern Studien zufolge Pflegefamilien explizit durch positive Emotionen der Familienmitglieder zueinander geprägt (Ie et al., 2021), das wechselseitige Moment der Wahl
des gemeinsam FamilienSeins (Ie et al., 2021) wird positiv betont sowie wiede rum positive Familienbeziehungen und Stabilität in diesen gewählten Beziehungen (Wullemann et al., 2025).
Auch historisch lassen sich diese Linien im Pflegekinderhilfediskurs identifizieren. Während in den 1980/90er Jahren in Wissenschaft und Fachöffentlichkeit besonders im deutsch und französischsprachigen Raum konträr diskutiert wurde, ob Pflegefamilien «Ersatz» (Nienstedt & Westermann, 1989; David, 2004) für die leibliche Familie des Kindes sein sollen oder als «Ergänzung» zu verstehen sind (DJI, 1987; Durning, 1995), wird spätestens seit den beginnenden 2000er Jahren ein differenzierter Diskurs zum strukturellen Status von Familie und Elternschaft im Kontext von Pflegeverhältnissen geführt (Gehres & Hildenbrand, 2008), der auch Widersprüche und Spannungsfelder betont. Darüber hinaus gibt es verschiedene Diskurslinien, die auch auf die normativen Gehalte fokussieren und auf einem Kontinuum zu begreifen sind zwischen Pflegefamilien als Familien verstehen und schützen vs. Pflegefamilien als temporäre Dienstleistende der Jugendhilfe mit staatlichem Auftrag sehen. Den Diskursen ist gemeinsam, dass sie auf «Familie» als private Lebensform rekurrieren und Familie im Kontrast zu Organisation konstruiert wird. Diskurse, die dafür plädieren, Pflegefamilien v.a. als «Familien» im Sinne privater Lebensformen zu verstehen, schreiben ihnen als solche besondere Qualitäten für die kindliche Sozialisation zu. Für Wolf (2012) sind Pflegefamilien eine private Lebens form, deren Lebensalltag unvereinbar ist mit einem differenzierten Verständnis von Professionalität. Durch Professionalitätsanforderungen erodiert ihm zufolge familiale Sozialisation. Professionalität soll ergo bei Fachpersonen angesiedelt sein, während die Pflegefamilie «schlicht Familie» bleiben soll. Winkler (2019) argumentiert ähnlich, dass Pflegefamilien «(bloss) Familien» sind und plädiert an die Praxis: (1) Erwartungen dämpfen, v.a. an Perfektion, (2) Erwartungen und Zumutungen abwehren, Pflegefamilien «entprofessionalisieren», Familienleben ermöglichen, (3) Aufmerksamkeit vom Pflegekind defokussieren und Schwierigkeiten als Normalität verstehen, (4) Rituale unterstützen, (5) Familiengeschichten und mythen als gemeinsames Narrativ stärken. Auch Gassmann (2018) geht davon aus, dass Pflegeeltern per se «Eltern» sind, deren Elternschaft allerdings durch spezifische Modalitäten gekennzeichnet ist, die Potential für Verletzbarkeit sowie für Entwicklungsräume darstellen.
Eine stärkere Betonung auf strukturelle Spannungsfelder zwischen Pflegefamilie als privater Lebensform und als Organisation legen Gehres & Hildenbrand (2008), die Pflegefamilien als Familien im «Modusdesalsob» verorten. Ihnen zufolge müssen Pflegefamilien verschiedene Ansprüche balancieren, abhängig vom Alter der Kinder und der Funktionsfähigkeit der Herkunftsfamilie,
um den Kindern gerecht zu werden. Das Spannungsfeld betonen auch Hel ming et al. (2011) die schreiben: «[…] dass in Pflegefamilien einerseits die Normalität familiärer Beziehungen gelebt werden kann, andererseits aber doch eine gewisse Offenheit nach außen erforderlich ist, um den ‹Alltag als Methode› […] leben zu können» (Helming et al. 2011, S. 122; Hervorhebungen i. O.). Pflegefamilien erbringen entsprechend Gestaltungsleistung in ambivalenten Verhältnissen, zentral sind Rituale, soziale Netzwerke, Pflegefamilie/eltern als Wahlfamilie/eltern, Herstellung von Ähnlichkeiten und einer Art «Verwandtschaft», familiale Zugehörigkeit, Namensgebung, (Un)Gleichbehan dlung von leiblichen und Pflegekindern, Alltäglichkeit, Überwindung körperlicher Fremdheit (Helming, 2011, S. 226 ff.). Aufgabe der Jugendhilfe sieht sie «unter anderem in der Begleitung der ambivalenten Findungsprozesse» (Helming, 2011, S. 256). Schofield et al. (2013) sowie Blythe et al. (2012) zeigen, dass Pflegefamilien neben der Gestaltung von Alltag und Beziehungen ständig Identitätsarbeit betreiben. Manche Pflegeeltern sehen sich stärker als «foster carer», betonen professionelle Aspekte und sind offen für Fachpersonen, andere verstehen sich als «foster parents» und schützen ihr Familienleben. Hollett et al. (2022) zeigen, dass «parents vs. carers» ein flexibles Konstrukt ist und auch Pflegefamilien, die initial v. a. «Eltern» sein möchten, bei ersten Schwierigkeiten ihre Professionalität zu stärken suchen.
Ein Fokus auf die Pflegefamilie als Organisation findet sich stärker in Texten aus Belgien, UK und Frankreich. Wullemann et al. (2023) aus Belgien verstehen Pflegefamilien als temporär, mit dem Ziel die Rückkehr des Kindes zur Herkunftsfamilie zu ermöglichen. Gleichwohl zeigen sie, dass in Pflegefamilien Familienterminologien genutzt werden, um Grenzen zu markieren, Zugehörigkeit und Inklusion herzustellen, Rollen zu definieren – und dass diese umso wichtiger werden, je bedrohter die Beteiligten ihre Position in der Pflegefamilie erleben (Wullemann et al., 2023, S. 21). Hollin & Larkin (2011) zeigen, dass gemäss britischen PolicyDokumenten Pflegefamilien «Organisationen» sein müssen, allerdings mit widersprüchlichen Anforderungen: Einerseits werden Elternrollen für die Pflegekinder gemäss der Dokumente nicht in der Pflege familie verortet, sondern bei begleitenden Fachpersonen und der Herkunfts familie, andererseits solle die Pflegefamilie Bindung gewährleisten. In Frankreich werden Pflegefamilien als Organisationen und Pflegeeltern als Professionelle verstanden, sie dürfen nicht in die Rolle eines Elternteils gehen und sollen ihre Pflegekinder «nicht lieben» (Euillet & ZaoucheGaudron, 2007). Allerdings zeigen sich auch hier Widersprüche: Pflegeeltern kämpfen z. B. darum Zuneigung zu den Kindern nicht zu zeigen, um Rivalität mit der leiblichen Mutter zu vermeiden und nicht von Fachpersonen diskreditiert zu werden (Jacquot et al., 2017).
Chapon et al. (2018) beschreiben für den französischen Kontext, dass Pflegekinder trotz anderslautender Erwartungen Bindungen und Zugehörigkeitsgefühle zur Pflegefamilie entwickeln. Familie bedeutet dabei für Pflegekinder vor allem zusammen sein, Liebe, Präsenz. Cornalba (2017) folgert daher, dass in einem Kontext, in dem an Pflegefamilien als Professionalitätsanforderung gestellt wird, keine emotionale Beziehung aufzubauen, Emotionen massiv tabuisiert sind, was negative Konsequenzen für alle Beteiligten mit sich bringen kann.
Im schweizerischen Kontext ist in der Pflegekinderverordnung (PAVO) definiert, dass mit der Aufnahme eines Pflegekindes die Übernahme von Sorge für das Kind einher geht. Sorge bedeutet hier «gute Pflege, Erziehung und Ausbildung des Kindes Gewähr bieten» (Art. 5 PAVO). Die Erwartungen an Pflegefamilien und die Unterstützung durch staatliche und private Organisationen sind dabei regional und situativ divers (Reimer et al., 2023). Welche stärker normativen Vorstellungen mit den Begriffen von Famile und Familialität in Pflegefamilien einhergehen ist allerdings weder definiert noch im Diskurs expliziert. Es ist davon auszugehen, dass die Bilder, die die verschiedenen Akteur:innen von Pflegefamilien haben, in die Ausgestaltung von Strukturen und für Anforderungen an Pflegefamilien wirken. Welche Bilder sich bei den verschiedenen Akteur:innen zeigen, hat die hier präsentierte Studie «Bilder der Pflegefamilie und ihre Wirkungen auf Kooperationsprozesse in der Pflegekinderhilfe» untersucht und damit eine Forschungslücke geschlossen.
3 Hintergrund, Studie und methodisches Vorgehen
Um einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Bilder von Pflegefamilien zu erreichen, wurden in der Studie mehrere Methoden eingesetzt: Zur Untersuchung der gesellschaftlichen Perspektive wurden öffentlich zugängliche Medientexte verwendet und diese diskursanalytisch untersucht. Nach der Grounded Theory Methodologie wurden zur Erfassung der Perspektive von Fachpersonen Gruppendiskussionen geführt und analysiert, und in Einzelinterviews die Perspektiven der Pflegefamilienmitglieder erhoben.
3.1 Mediendokumente
Die durchgeführte Analyse von Mediendokumenten stützt sich theoretisch und methodisch auf sozialwissenschaftliche Ausprägungen der Diskursanalyse (Jäger, 2015; Keller, 2010). Mediale Texte werden als Beiträge zu einem thematisch gebundenen öffentlichen Diskurs (SchwabTrapp, 2001) zu Pflegefamilien verstanden, also die Gesamtheit dessen, was über Pflegefamilien geschrieben wird. Innerhalb dessen lassen sich diskursive Positionen feststellen, welche sich in story lines formieren, die als Produkte bestimmter Interpretationen,
Verknüpfungen von Argumentationen und Schlussfolgerungen behandelt und zu Narrativen verdichtet werden (Keller, 2010; SchwabTrapp, 2001). Ein Konsens im Diskurs bildet den «grundsätzlichen gemeinsamen Boden – die zugrunde liegenden Werte und Prämissen, auf dem die […] Positionen sich bewegen, die im Detail scharf divergieren können» (Hall, 1989, S. 145).
Der Datenkorpus besteht aus 5 889 deutsch und französischsprachigen Mediendokumenten (aus Zeitungen, Zeitschriften und onlineMedien; Veröffentlichung zwischen 01/2013 und 03/2022). Ein Text wurde in das Korpus aufgenommen, wenn er mindestens einen der definierten Suchbegriffe enthält. Aus diesem Korpus wurden Texte nach folgenden Kriterien selektiert: Erscheinungs zeitpunkt (2013–22), Textlänge (kurz vs. lang), Anzahl Suchbegriffe (1–54) und Sprache (dt./frz.). Zusätzlich wurden zu Vergleichszwecken Texte selektiert gemäss: Lokalberichterstattung, links vs. rechtsgerichtete Medien, onlineMedien und spezifische Themenbereiche. Insgesamt wurden aufgrund dieser Kriterien 292 Texte ausgewählt und in die Diskursanalyse einbezogen.
3.2 Gruppendiskussionen und Interviews
Im Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie (Strauss & Corbin, 1996) wurden in einem iterativzyklischen Prozess (Mey & Mruck, 2011, S. 23 f.) sowohl Gruppendiskussionen mit Fachpersonen als auch Einzelinterviews mit Mitgliedern von Pflegefamilien geführt. Mittels eines offenen, erzählgenerierenden Leitfadens konnten subjektive Deutungen sowie Narrationen zu Alltagsprozessen und Handlungen erhoben werden. Einer anfänglich theoretischen Kontrastierung folgend, wurden während des Auswertungsprozesses weitere Interviewpartner:innen gewonnen, gleichzeitig führten neue Interviews zu Denkanstössen und Einsichten im laufenden Analyseprozess. Insgesamt wurden in der deutsch und französischsprachigen Schweiz neun Gruppendiskussionen mit 47 Fachpersonen der Pflegekinderhilfe und 40 Einzelinterviews mit Mitgliedern von 13 Pflegefamilien zwischen Mai 2021 und August 2022 mit einem offenen, erzählgenerierenden Leitfaden geführt. Die im Rahmen der Gruppendiskussionen befragten Arbeitsteams kontrastieren nach Region, Organisationsform der Arbeitgebenden (Behörden, Vereine, AG/GmbH) und Funktion in der Arbeit mit Pflegefamilien. Die befragten Pflegefamilien wiederum wurden kontrastiv ausgewählt nach Professionalisierungsgrad (ausgebildete angestellte Pflegefamilien, Laien, Verwandte), sozioökonomischen Merkmalen, Alter und Anzahl Kinder, Wohnsituation und Dauer des Pflegeverhältnisses. Nach den Befragungen wurden ausführliche Beobachtungsprotokolle angefertigt und die Audiodateien transkribiert und anonymisiert. Sämtliche Transkripte der
Gruppendiskussionen wurden offen codiert. Durch Mini und Maximalkontraste sowie sequenzielle Feinanalysen konnten die Transkripte aufgeschlüsselt und Kernkategorien gebildet werden, die zueinander in Verbindung gesetzt wurden. Sechs Transkripte der Einzelinterviews wurden offen codiert, der so entstandene Codebaum mit jenem der Gruppendiskussionen abgeglichen und interessierende Codes herausgearbeitet. Auf dieser Grundlage wurden alle übrigen EinzelinterviewTranskripte codiert, gefolgt von einem rekonstruktiven Vorgehen analog zum Vorgehen bei den Gruppendiskussionen. Im Analyseprozess wurden wir durch zwei Forschungswerkstätten unterstützt.
3.3 Triangulation
Der methodologischen Prämisse folgend, dass es sich bei den verwendeten Daten um unterschiedliche Datentypen handelt, welche auch in Bezug auf das methodische Vorgehen zu unterscheiden sind, wurde eine Triangulation auf Ergebnisebene durchgeführt (Flick, 2011). Eine solche ermöglicht es, Ergebnisse aus unterschiedlichen Analyseprozessen in Bezug auf das vorliegende Erkenntnis interesse zusammenzubringen, und dabei die Mehrperspektivität auf den Gegenstand für den Erkenntnisgewinn fruchtbar zu machen. Die ergebnis bezogene Triangulation folgt zwei Schritten: Erstens werden die einzelnen Datenanalysen nach Datentyp getrennt durchgeführt (Mediendokumente, Gruppendiskussionen und Interviews), um deren unterschiedlichen Eigenheiten gerecht zu werden. In einem zweiten Schritt werden die zentralen Ergebnisse der separaten Analysen zusammengeführt und zueinander in Beziehung gesetzt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Fragestellungen herausgearbeitet (vgl. Shank, 2006); das Ergebnis dessen wird im nachfolgenden Ergebniskapitel dokumentiert.
4 Ergebnisse
Im Folgenden werden die Ergebnisse der Analysen nach Datentypen dargestellt: öffentlichmedialer Diskurs, Gruppendiskussionen und Einzelinterviews mit Pflegefamilienmitgliedern. Die emotionale Beziehung erweist sich als gemeinsamer Nenner aller Datensorten.
4.1 Öffentlich-medialer Diskurs: «Mami» statt «Heimleiterin»
Der Ausdruck «Pflegefamilie» nimmt im öffentlichen Diskurs unterschiedliche Bedeutungen an. Pflegefamilie kann für eine Gruppe von Personen stehen, welche zusammen eine Form von Familie bilden, oder für die Unterbringungsform, welche von einem Heim unterschieden werden kann. In den analysierten Zeitungsartikeln wird oft auf Fachpersonen und Pflegeeltern referiert, diesen wird
teilweise ausgiebig Raum für ihre Darstellungen gegeben. Die Perspektiven von Pflegekindern fliessen dagegen nur beschränkt in die Darstellungen ein.
Die Unterbringung in Pflegefamilien wird zumeist als gute Lösung präsentiert, insbesondere im Vergleich zu einem Heim: «Der Kanton Bern regelt die Familienpflege neu. Einige Pflegeeltern erhalten viel weniger Entschädigung – so bleibe Kindern nur das Heim. Dabei wäre eine Familie besser.» (Beobachter.ch, 19. 11. 2021) Die Pflegefamilie wird generalisierend als «beste Option für ausser familiäre Unterbringung» tituliert (Beobachter.ch, 2021). Zwar wird punktuell auch auf «Fälle, für die Pflegefamilien nicht geeignet sind» (Aargauer Zeitung, 14. 5. 2019) verwiesen, jedoch werden diese nicht genauer bezeichnet und ihnen wird nur eine marginale Rolle zugemessen. Erläuternd wird auf einen grossen Unterstützungsbedarf von Pflegekindern im Alltag hingewiesen (Beobachter.ch, 19. 11. 2021), und auf die «intensive soziale Bindung innerhalb einer Familie», welche bei «einer Pflegefamilie nun mal grösser [ist] als in einem Heim» (Ostschweiz am Sonntag, 8. 2. 2015). Hier zeigt sich, dass die Aufgaben von Pflegeeltern sowohl praktische Aspekte wie Hausaufgabenhilfe als auch Emotionsarbeit umfassen.
Familialität ist bisweilen auch Gegenstand von emotionalisierten Positionen: «Kinder brauchen doch ein ‹Mami›, nicht eine Heimleiterin», wird eine Pflegemutter zitiert (St. Galler Tagblatt, 16. 3. 2018). Dem positiv konnotierten «Mami», das Nähe, Vertrautheit und Fürsorge impliziert, wird der kalt und bürokratisch anmutende Begriff der «Heimleiterin» entgegen gesetzt.
In den Zeitungsartikeln manifestiert sich ein Spannungsfeld zwischen Anforderungen, welche einerseits an die Professionalität, andererseits an Familialität von Pflegefamilien gerichtet werden. Gewisse Formulierungen verweisen auf Besonderheiten, die Pflegefamilien attestiert werden, beispielsweise wenn von einer «sozialpädagogischen Familie» (Werdenberger & Obertoggenburger, 25. 1. 2016), einer «Art Grossfamilie» (SWI swissinfo.ch, 21. 4. 2019) oder einer «Patchworkfamilie» (Beobachter, 24. 12. 2013) die Rede ist. Solche und ähnliche Bezeichnungen verweisen auf die Unterscheidung von Pflege familien und anderen Familien sowie auf familiale Sonderaufgaben, die erstere zu bewältigen haben. Die Besonderheit des Familialen manifestiert sich auch im Umgang mit Pflegekindern, welche von (leiblichen) Familienmitgliedern abgegrenzt werden, beispielsweise räumlich: Eine Pflegefamilie verfügt zum Beispiel über zwei Küchen, «einer grossen […] für die allgemeine Verwendung und einer kleineren im zweiten Obergeschoss, wo die Familie ihre Privaträume haben wird»(ZürichseeZeitung, 8. 5. 2019).
Zudem kommt Pflegefamilien die Aufgabe zu, sich von der Herkunftsfamilie abzugrenzen, diese aber zugleich am Leben des Pflegekindes teilhaben zu lassen.
Letzteres manifestiert sich an Aushandlungen zur Bezeichnung der Pflegemutter durch das Kind. Zahlreiche Bezeichnungen werden diskutiert, u. a. «Ersatzmami» (Der Landbote, 9. 5. 2015), «HerzMama» (Glückspost, 6. 10. 2016) oder «Mima» (Schweiz am Wochenende, 23. 9. 2017). Damit wird die Pflegefamilie wiederum als besonders markiert, da «Mami» der Herkunftsfamilie vorbehalten bleiben soll (Der Landbote, 9. 5. 2015).
Als Kern des Familialen zeigt sich die emotionale Beziehung, welche als Konsens im medialen Diskurs bezeichnet werden kann: Während die einzelnen Topoi zum und Konnotationen des Familialen variieren, manifestiert sich die emotionale Beziehung zwischen Pflegeeltern und Pflegekind als unbestrittene normative Idee. Deren Relevanz zeigt sich in entsprechenden Forderungen an Pflegeeltern: Es sei wichtig, dass «Pflegeeltern verlässliche primäre Bezugspersonen für das Kind» seien (Schweiz am Wochenende, 20. 5. 2017a). Aufgrund ihres «schweren Lebensrucksack[s]» seien die Pflegekinder auf «mindestens eine Bezugsperson zu 100 Prozent» angewiesen (Schweiz am Wochenende, 20. 5. 2017b). Beziehung tritt in Bezug auf Pflegeverhältnisse aber auch als nicht vorhandene und damit als Risiko in Erscheinung, beispielsweise in Form von «Bindungsstörungen», welche eine portraitierte Pflegemutter zu diagnostizieren meint; der Text ergänzt: «Es habe sehr viel Geduld gebraucht, in ganz kleinen Schritten ein Vertrauensverhältnis aufzubauen» (Schweiz am Wochenende, 2017b).
Die Funktion von emotionalen Beziehungen zwischen Pflegeeltern und Pflegekindern wird in «Zusammenhalt» (Berner Zeitung, 19. 7. 2013) und «Gemeinschaft» (Beobachter, 24. 12. 2013) sowie im Bieten eines «neuen Zu hause[s]» gesehen (Blick.ch, 30. 7. 2018). In metaphorischen Darstellungen soll Pflegefamilie «ein Nest bieten» (Grenchnertagblatt.ch, 12. 2. 2022), oder sie wird verglichen mit einem «Baum, der Vögeln Schutz bietet» (Beobachter, 24. 12. 2013). Sie erscheint also als etwas die Pflegekinder Behütendes und Beschützendes, und zugleich als etwas Korrektives.
Mit der Bezeichnung der Pflegemutter eng verbunden ist die Frage der adäquaten Nähe in Pflegeverhältnissen. Am Beispiel einer portraitierten Pflegemutter zeigt sich auch der Bezug zur entsprechenden Fachdebatte: «Aber sie liebt ihre Pflegekinder, gibt ihnen Geborgenheit und körperliche Nähe. Fachleute werfen ihr vor, sie habe nicht genug professionelle Distanz. Sie sagt dazu: ‹Ich weiss, die Kinder sollten mich nicht Mami nennen.› Doch manchmal brauche es Streicheleinheiten. ‹Sie verkümmern sonst.›» (srf.ch, 12. 4. 2017)
Die Eigendarstellung von Pflegefamilien wird in Zeitungsberichten formalsprachlich meist als solche kenntlich gemacht – aber in der Argumentationsweise des Textes dennoch meist als plausibel und glaubhaft gerahmt.
Und auch Kritik an Fachmeinungen wird bisweilen argumentativ übernommen, wie im Fall des folgenden Pflegeelternpaars: «Sozial Tätige sollen Distanz wahren, Arbeit und Privates trennen, verlangt die Lehre. Terry und Paul sagen: ‹Wir haben nur dieses eine Leben.› Bei Hofmanns stehen alle Räume allen offen […].» (Beobachter, 24. 12. 2013)
Dieser Ausschnitt zeigt zudem auch eine gewisse Grenzenlosigkeit des Familialen, welche die innerfamiliale Differenzierung von Kindern und Pflegekindern aufhebt. In dieser Grenzenlosigkeit zeigt sich eine zusätzliche Sonderaufgabe von Pflegefamilien: «Das sei kein Job, den man abends an den Nagel hänge und am Morgen wieder aufnehme. Wenn man mitten in der Nacht gebraucht werde, dann werde man mitten in der Nacht gebraucht.» (Grenchner Tagblatt, 12. 2. 2022)
Im Kontext von VerwandtschaftsPflegeverhältnissen wird eine enge emotionale Beziehung jedoch bisweilen auch kritisiert: «Ein Pflegeplatz in der eigenen Familie hat Vorteile, so wird das Kind nicht völlig aus seinem Umfeld gerissen. Doch die Nähe kann auch zum Problem werden» (Urner Zeitung, 11. 3. 2020). Ein solches entsteht, wie ein Experte zitiert wird, aufgrund von familialen Spannungen: «‹Die Beziehung zwischen leiblichen Eltern und Grosseltern ist nun mal konfliktanfälliger als zwischen Fremden›» (Urner Zeitung, 2020). Solche Darstellungen verweisen auch auf die Problematisierung gewisser Formen von Familialität beziehungsweise auf die Grenzen des Familialen in Pflegeverhältnissen.
4.2 Gruppendiskussionen: Pflegefamilie als «ein Ort von Geborgenheit, Beziehung und Entfaltung, wo man sich geborgen fühlen, Beziehung pflegen und sich entfalten kann»
In den Gruppendiskussionen wird eine ebenfalls normative Haltung deutlich, bei der die Fachpersonen der emotionalen Beziehung eine hohe Bedeutung für das Familiale zumessen sowie von Pflegefamilien Sicherheit, Dauerhaftigkeit und einen pädagogischen Anspruch verlangen.
Fachpersonen skizzieren eine Vorstellung von Pflegefamilie ( Reimer & van Oordt, submitted), in deren Fokus nichtverwandte Pflegeeltern mit einwandfreiem Leumund stehen, ländlich, Mittelschicht. Sie verfügen über soziale, emotionale und funktionale Eigenschaften, sind im ErnährerModell organisiert und pflegen Werte, die sich an einem christlichen, nachhaltigkeitsorientierten Bildungsbürgertum orientieren. Von diesen Pflegeeltern erwarten Fachpersonen einerseits eine gewisse Professionalität und die Übernahme von Aufgaben im Rahmen des Pflegeverhältnisses, die über das hinausgehen, was von Eltern in unserer Gesellschaft erwartet wird, u. a. Besuch von spezifischen
Weiterbildungen, Austausch mit Fachpersonen der Pflegekinderhilfe, Buchfüh rung zu Entwicklung und Finanzierung des Pflegekindes, Kontaktgestaltung zur Herkunftsfamilie des Kindes. Andererseits sollen Pflegefamilien im Kontrast zu Institutionen, als private Familie fungieren. Standardisierte Abläufe und Regeln in Institutionen würden der individuellen Situation und Persönlichkeit eines Kindes nicht immer gerecht und der zeitlich klar begrenzte Status der Bezugspersonen wie des Orts schaffe emotionale Distanz statt Zugehörigkeit. Die Argumentation ist hier ähnlich der medialen Darstellung: als Familie sollen Pflegefamilien mit dem Pflegekind in eine emotionale Beziehung treten und «Nestwärme» (GInt8) bieten. Eine Fachperson formuliert es so: «die Pflegefamilie, die macht ein Angebot von dem, was sie haben und zur Verfügung stellen können, vor allem an einem hohen Mass an Beziehungsangeboten – was in einer Institution ein bisschen anders ist» (GInt1).
Im «Beziehungsangebot» manifestiert sich das, was Fachpersonen als Kern von Familie betrachten. Eine andere Fachperson versteht «familiär» als Gegensatz zu «professionell», was sie bei Pflegefamilien positiv setzt (GInt6). Die emotionale Beziehung als Grundzug von Familie sollen Kinder generell erfahren: «für mich geht es in einer Familie um Beziehung» (GInt7), konstatiert eine Fachperson. Besonders relevant werde dies in Pflegefamilien, wo Pflegekinder durch Beziehung Anschluss und Zugehörigkeit finden sollen. Eine Fachperson weist Pflegefamilien durch die Ermöglichung positiver Beziehungserfahrung für das Pflegekind eine therapeutische Wirkung zu und in der Folge «Heilung» (GInt7).
Die emotionale Beziehung manifestiert sich in ihrer Dauerhaftigkeit, die in Schilderungen deutlich wird, in denen die Beziehung konstant über das Ende der Unterbringung hinaus Bestand hat und familiale Zugehörigkeit bedeutet oder in denen erwachsene Pflegekinder nach einem Bruch den Kontakt zur Pflegefamilie wieder suchen.
Neben der emotionalen Beziehung seien dabei Sicherheit und ein pädagogischer Anspruch zentral, eine Fachperson sagt: «Familie [ist] ein Ort, wo man sich geborgen fühlen, Beziehung pflegen und sich entfalten [kann]» (GInt7). Dies geschieht im normativen Rahmen den Fachpersonen für die Pflegefamilie setzen und zeigt sich in einem strukturierten Tagesablauf bei Anwesen heit eines Elternteils, gemeinsamen Essen, dem Erlernen von Verantwortung bei der Versorgung von Haustieren, einem aktiven Freizeitverhalten, vornehmlich in der Natur, sowie einem kontrollierten Medienkonsum.
Die Ergebnisse von Einzelinterviews mit Mitgliedern von Pflegefamilien schliessen teilweise an die Ergebnisse der medialen Diskurses und der Gruppendiskussionen an, zeigen aber eine Ausdifferenzierung in der Bedeutung der emotionalen Beziehung zwischen den Pflegeeltern und (Pflege)Kindern.
4.3 Pflegeeltern: Pflegefamilie als gemeinsamer Werteraum und breite Varianz in der emotionalen Beziehung zum Pflegekind
In den Einzelinterviews mit Pflegemüttern und Pflegevätern lassen sich keine genderspezifischen Unterschiede ausmachen, wenn es um den Familienbegriff respektive das Verständnis von Familie geht. Entsprechend ist hier die Sichtweise der Pflegeeltern gemeinsam dargelegt. Für Pflegeeltern ist Pflegefamilie eine «normal» empfundene Familienform (EInt5_Bernhard) mit Aufgaben, die über das, was Familien regelhaft leisten, hinausgehen und zusätzlichen involvierten Personen (Fachpersonen, Herkunftsfamilie). In diesen zusätzlichen Auf gaben und Personen wird das Besondere der Pflegefamilie im Vergleich zu anderen Familien deutlich. Die Beschreibungen des Aufgabenkatalogs durch Pflegeeltern decken sich weitgehend mit jenen der Fachpersonen. Allerdings zeichnet die befragten Pflegefamilien dadurch aus, dass sie vielfältiger sind als das Ideal der Fachpersonen, mit verwandten Pflegefamilien, in der Stadt lebenden Pflegefamilien oder DoppelverdienerPflegeelternpaaren. Der Bezug auf Familie erfolgt in den Interviews mit den Pflegeeltern entsprechend nicht primär als Bezug auf ein normatives Familienmodell wie bei den Fachpersonen, sondern stellt sich in der Analyse der Interviews mit Pflegeeltern differenzierter dar.
Die befragten Pflegeeltern eint eine ähnliche Wertehaltung bei Alltags und Erziehungsthemen. In diesen Werten verkörpert sich der Kern der Bezugnahme auf das Familiale bei Pflegeeltern: Familie ist für Pflegeeltern der Raum, in dem Werte gelebt und den Kindern vermittelt werden mit einem pädagogischen Anspruch und Auftrag an den Alltag der Familie, den Pflegeeltern als «Mitgeben» (EInt8_Monica) oder «Prägen» (EInt12_Nicole) bezeichnen und in dem sie eine «Tagesstruktur» (EInt9_Ruedi) bieten. Zentrale Werte sind gemeinsame Zeit, Gewaltfreiheit, gemeinsame Essen, Bewegung in der Natur, gute Umgangsformen im Zusammenleben. Vermitteln wollen die Pflegeeltern in diesem familialen Rahmen den Kindern des Weiteren Arbeitsamkeit, Selbständigkeit, Reflexionsfähigkeit, Empathiefähigkeit und Selbstvertrauen.
Diese Werte gehen einher mit dem Schaffen eines sicheren und Struktur gebenden erzieherischen Ortes für das Kind im Alltag, dabei wird Sicherheit als Begriff von den Pflegeeltern nicht explizit genannt, sondern implizit als Rahmenbedingung gesetzt. Sicherheit in der Pflegefamilie beinhaltet eine Abgrenzung gegen Aussen. So beschreiben Pflegeeltern, wie sie die (Pflege)Kinder auf «das Leben» vorbereiten (EInt1_Karin), sie kontrollieren den Medien konsum und warnen vor dem Ausgehen (EInt11_David). Pflegekinder sollen in der sicheren
Familie auf die Unsicherheiten und Gefahren der Aussenwelt und eines selb ständigen Lebens vorbereitet werden. Die emotionale Beziehung zum Pflegekind wird aus Sicht der Pflegeeltern unterschiedlich und ambivalent gewichtet. Die Bedeutung unterscheidet sich nach der Dauer des Pflegeverhältnisses, dem professionellen Selbstverständnis der Pflegefamilie sowie der Sympathie zwischen Pflegekind und Pflegeeltern.
Pflegefamilien, die mit einem Pflegekind dauerhaft zusammen leben zeigen sich emotional involvierter als professionelle Pflegefamilien, die kleinheimähnliche Strukturen aufweisen oder auf Kurzzeitbetreuung ausgerichtet sind.
Ein Teil der Pflegeeltern lebt eine intensive positive emotionale Beziehung zum Pflegekind. Diese Pflegeeltern sehen die Beziehung als dauerhaft und nicht mit dem Ende des Pflegeverhältnisses beendet. Eine Pflegemutter beschreibt ihre Beziehung zum Pflegekind als «unkündbar» (EInt8_Pascale). Ein Pflegevater beschreibt sein Pflegekind als «meine Tochter» (Kint3_Emanuel) und drückt damit seine Verbundenheit aus.
Andere Pflegeeltern wollen sich bewusst nicht zu sehr emotional involvieren. Eine sich als professionell verstehende Pflegemutter beispielsweise grenzt sich emotional stark von den Pflegekindern ab, was sich auch in einer räumlichen Abgrenzung widerspiegelt: «[die Pflegekinder] sind nicht [in den privaten Stock, d.A.] reingekommen, wenn’s nicht unbedingt, unbedingt haben müssen. Und dann meistens noch angeklopft. Und wenn sie mal mit einem von unseren Kindern reingekommen sind, dann haben sie sich noch fast entschuldigt» (EInt2_Rosmarie).
Die professionelle Pflegemutter zeigt mit der Beschreibung des höflich distanzierten Verhaltens der Pflegkinder die emotionale wie räumliche Distanz zwischen sich und den Pflegekindern sowie ihre Differenzierung zwischen Pflege und leiblichen Kindern. Bei Pflegeverhältnissen, die nicht deutlich von einer emotionalen Beziehung gezeichnet sind, kann mit dem Auszug des Pflegekindes das Zugehörigkeitsgefühl seitens der Pflegeeltern abflauen.
Ein weiterer beeinflussender Faktor für die emotionale Beziehung ist die Sympathie zwischen Pflegeeltern und Pflegekind. «Vom Zwischenmenschlichen» her, funktioniere es nicht (EInt5_Claire), beschreibt beispielsweise eine Pflegemutter die Konflikte mit einem Pflegekind, die schliesslich zum Abbruch des Pflegeverhältnisses führten. Eine emotionale Beziehung kann sich, wie manche Pflegeeltern erwähnen, in körperlicher Nähe wie Umarmungen oder Kuscheln niederschlagen, wobei die Pflegeeltern betonen, die Bedürfnisse der Kinder zu respektieren und auf (non)verbale Zeichen der Pflegekinder zu achten.
4.4 Leibliche Kinder – Schaltstelle für familiale Zugehörigkeit
Der Status Pflegefamilie bringt auch für die leiblichen Kinder zusätzliche Aufgaben mit sich. Familie gilt den leiblichen Kindern selbstverständlich als sicherer Hort, der Wert der Gewaltfreiheit wird von den leiblichen Kindern betont, und sie beschreiben die Beziehungen und Umgangsformen unter den leiblichen Familienmitgliedern durchgehend positiv. Man habe zum Beispiel «Meinungsverschiedenheiten» (KInt5_Kim) mit den Eltern, keinen Streit – den gebe es vorwiegend zwischen Pflegekindern und Pflegeeltern. Den Alltag und die vermittelten Werte beschreiben die leiblichen Kinder ähnlich wie die befragten Erwachsenen. Die Regeln und Aufgaben in der Familie empfinden leibliche Kinder jedoch im Vergleich zu anderen Familien als rigider, darin könnte sich die explizite pädagogische Haltung der Pflegeeltern manifestieren. Leibliche Kinder berichten nicht vom Aufbegehren gegen diese Regeln, sondern betonen ihre Vorbildfunktion für das Pflegekind, die auch vom sozialen Umfeld wahrgenommen werde.
Die leiblichen Kinder können wesentlich zur Integration des Pflegekindes in die Familie, aber auch zum Ausschluss beitragen. Dreh und Angelpunkt der Bezugnahme auf Familie sind für leibliche Kinder die emotionalen Beziehungen unter den Familienmitgliedern und die emotionale Beziehung zum Pflegekind. Eine emotionale Beziehung schafft aus dieser Perspektive Zugehörigkeit zur Familie. Dies spiegelt sich in Familienbezeichnungen für die Pflegekinder wider, die auch graduelle Unterschiede beinhalten können: «wie mein Bruder», «fast wie mein kleiner Bruder» (KInt13_Elouan) oder «noch nicht das gleiche wie mit den richtigen Schwestern» (KInt12_Jeremias).
Förderlich für die emotionale Beziehung sind die Persönlichkeit und Ähnlichkeiten sowie altersabhängige gemeinsame Interessen. Die emotionale Beziehung äussert sich in der Bereitschaft, dem Pflegekind alltägliche Hilfestellungen zu geben sowie in der Verteidigung des Pflegegeschwisters gegenüber Dritten. Entsteht eine emotionale Beziehung, setzen die leiblichen Kinder dies mit dem Entstehen von «Familie» gleich, was für sie mit Dauerhaftigkeit einhergeht. Entsprechend beschreiben manche leiblichen Kinder das Ende eines Pflegeverhältnisses als schmerzhaften Prozess und berichten von ihren Bemühungen über die Beendigung des Pflegeverhältnisses hinaus, den Kontakt zum Pflegekind, das zum Pflegebruder / zur Pflegeschwester geworden ist, aufrecht zu erhalten. Entsteht keine emotionale Beziehung, so entsteht aus ihrer Perspektive keine Familie: «Eine Pflegefamilie ist nicht eine Familie» (KInt2_
Bigna), meint eine Befragte und führt aus, dass das PflegefamilieSein in ihrer Familie beruflicher Wunsch der Eltern sei und die Akzeptanz der Pflegekinder durch elterliche EmpathieForderungen erfolge. Diese Forderung setzen nicht alle leiblichen Kinder gleich um, was teilweise zu Spannungen und innerfami liären Distanzierungen leiblicher Kinder führt.
4.5 Pflegekinder – emotionale Beziehung als Kern des Familialen
Wie Pflegeeltern und leibliche Kinder beschreiben auch Pflegekinder den Alltag in der Pflegefamilie als «normal» mit zusätzlichen Aufgaben wie Absprachen und Kontakt mit Behörden, Kommunikation und Bewältigung des Pflegekinderstatus oder Wechseln des Aufenthaltsortes. Zudem weicht das Leben in der Pflegefamilie für Pflegekinder von jenem in der Herkunftsfamilie ab. Dies kann positiv, «wie im Märchenbuch» (KInt11_Melanie) oder als befremdlich empfunden werden und bedeutet immer eine Adaptionsleistung. Die befragten Pflegekinder beurteilen Regeln und Aufgaben in der Pflegefamilie unisono rigider als in ihren Herkunftsfamilien, auch sie erleben also den pädagogischen Anspruch der Pflegefamilie, bewerten ihn allerdings kritisch. Sicherheit als Bestandteil der Bezugnahme auf Familie in der Pflegefamilie spielt in den Pflegekinderinterviews keine explizite Rolle. Normative Familienvorstellungen wie die Fachpersonen diese setzen sind irrelevant aus der Pflegekinderperspektive.
Zentral für die Bezugnahme der Pflegekinder auf Familie ist die emotionale Beziehung. Diese variiert entsprechend, wie oben dargelegt, abhängig von der persönlichen Sympathie und der Dauer eines Pflegeverhältnisses. Pflegekinder können sich mehreren Familien zugehörig fühlen. Manche Pflege kinder beschreiben die Beziehung zur Pflegefamilie als gut und gleichzeitig eine (noch) stärkere emotionale Bindung an ihre Herkunftsfamilie. Ein Pflegekind bezeichnet ihre Herkunftsfamilie beispielsweise als «echte Familie» (KInt12_Hadjar), andere beschreiben, sie erleben Liebe nur von ihren Eltern. Pflege familien werden für Pflegekinder zur einzigen Familie, wenn die Herkunftseltern verstorben oder unbekannt sind, oder sich für die Kinder in der Herkunftsfamilie keine emotionale Nähe eingestellt hat. Diese Kinder zeigen sich als besonders verletzlich, wenn ihr Bedürfnis nach (langandauernder) emotionaler Familienbeziehung von Pflegeeltern zurückgewiesen wird. Ein Pflegekind beschreibt den schmerzhaften Ausschluss als Familienangehörige durch ihre Pflegeeltern trotz langjährigem Pflegeverhältnis: «was sie gesagt hat, hat mir so weh getan. […] ich bin ja eigentlich auch euer Kind, weil ich bin schon seit elf Jahren da. […] [dann habe] ich wieder angefangen zu akzeptieren, dass ich nicht das eigene Kind bin. […] jetzt bin ich die grosse Schwester von Petar [weiteres Pflegekind, d. A.]» (KInt6_Alisha). Gleichzeitig versucht das Pflegekind, ihr Bedürfnis nach Familienzugehörigkeit durch die Übernahme der Rolle der «grossen Schwester» eines anderen Pflegekindes zu kompensieren.
Grundsätzlich werden von den Pflegekindern die Verwandtschafts Bezei chnungen für Pflegefamilienmitglieder situativ, über die Zeit variierend und in Abhängigkeit von den Bezeichnungen durch andere Kinder in der Familie unterschiedlich gewählt. Von physischer Nähe berichten Pflegekinder eher bei Pflegegeschwistern als bei den Pflegeeltern.
5 Ergebnisintegration/Diskussion
Die Ergebnisse der verschiedenen empirischen Materialien zeigen, dass die Bezugnahme auf Familie im Kontext der schweizerischen Pflegekinderhilfe über die verschiedenen Perspektiven (öffentlicher Diskurs, Professionelle, Pflege eltern, leibliche Kinder und Pflegekinder) hinweg zwar einige Unterschiede aufweist, aber wesentlich auf drei zentrale Dimensionen verdichtet werden kann: Familie als normativer Rahmen, Familie als Ort von Erziehung und Sozialisation, Familie als Raum für positive emotionale Beziehungen unter den Familienmitgliedern.
Das Erleben und die Beurteilung von Normativität, Erziehung und Beziehung gehen dabei bei den unterschiedlichen Perspektiven auseinander. Die Differenzen deuten auf inhärente Spannungsfelder in der schweizerischen Pflegekinderhilfe und ihrer Bezugnahme auf «Familie» hin, die im Folgenden weiter ausgeleuchtet werden.
5.1 Normativer Rahmen von Familie
In der Öffentlichkeit und bei Fachpersonen ist der normative Rahmen für das Familiale der Pflegefamilie. Pflegefamilie soll aus dieser Perspektive nicht irgendeine Familie sein, sondern eine besonders gute Familie, die vor allem traditionellen Familienvorstellungen Rechnung trägt in Bezug auf Familienkonstellation und den Ort, an dem sie zusammenlebt (Haus auf dem Lande), Rollenverteilungen (männliches Ernährermodell), Alltags und Beziehungsgestaltung (strukturiert, zugewandt, werteorientiert). Diese Normativität zeigt sich in den Medien in zugespitzter Weise und verdichtet sich bei Fachpersonen zu einem Idealbild der guten Pflegefamilie. Dem normativen Rahmen wird Bedeutung zugesprochen im Hinblick auf eine gelingende Sozialisation und Erziehung und die Tragfähigkeit emotionaler Beziehungen in der Familie. Die Normativität steht ergo nicht für sich allein, sondern hat eine zugeschriebene Funktion für den Sozialisationsrahmen. Diese Funktion rekurriert auf bürgerliche Familienideale, die im öffentlichen Diskurs und von den Fachpersonen unhinterfragt tradiert und nicht oder kaum reflektiert werden. Im öffentlichen Diskurs kann dies den gesellschaftlichen Familienleitbildern zugeschrieben werden, die in der Schweiz trotz einer leichten Flexibilisierung beharrlich konservativ verbleiben (z. B. Bühlmann, 2021; Maihofer, 2008).
Im Diskurs der Fachpersonen kann dies unter einer Professio nalisierungsperspektive als problematisch analysiert werden: die Orien tierung erfolgt an gesellschaftlichen Leitbildern und nicht an reflektiertem Fachwissen, das beispielsweise Wissensbestände aus der Familienforschung einbezieht, die die Widersprüche bürgerlicher Familienideale offenlegen (z. B. Allert, 1998; Richter, 1970) oder sich auf sozialpädagogische Wissens bestände beziehen, die Fragen von Lebenswelt, Biografie und Bedürfnisse von Pflegekindern ins Zentrum stellen (Thiersch, 2020; Wolf, 2015). So zeigt sich auch bei Pflegeeltern, dass diese den normativen Vorstellungen nur teilweise entsprechen und bei Pflegekindern und leiblichen Kindern, dass diese dem von den Fachpersonen gesetzten normativen Rahmen keine grössere Bedeutung zumessen. Im Zentrum für die Kinder stehen vielmehr positive emotionale Beziehungen unter den Familienmitgliedern, die aus der Perspektive der Kinder nicht an normative Familienvorstellungen in Bezug auf Rollen, Konstellation und Ort gebunden sind. Zwischen Ideal und Realität entsteht hier entsprechend eine Diskrepanz, die auf ein Spannungsfeld verweist: Öffentlichkeit und Fachpersonen versuchen Familien, die normativen Idealen entsprechen, als Pflegefamilien zu rekrutieren, auszubilden und zu begleiten. Die in der Realität anzutreffenden Pflegefamilien dagegen sind divers und entziehen sich in den Familienmodellen und der Rollenverteilung mindestens teilweise den normativen Vorstellungen. Die Diskrepanz schafft signifikante Spannungsfelder in der Kooperation zwischen Fachpersonen und Pflegefamilien in der Vorbereitungs und Begleit situation, da Erwartungen an die Pflegefamilien von deren Lebensrealitäten voneinander abgekoppelt sind: In der Ausbildung von Pflegefamilien kann die Diskrepanz dazu führen, dass nicht die faktischen Themen der Familien adressiert werden. Bei der Rekrutierung von Pflegefamilien bewirkt das Idealbild, dass möglicherweise nur ein Teil der Menschen, die in unserer Gesellschaft bereit wären, Pflegefamilie zu werden, sich überhaupt angesprochen fühlt.
5.2 Erziehung und Sozialisation
Öffentlichkeit, Fachpersonen und Pflegeeltern fokussieren das Familiale der Pflegefamilie stark auf die Familienfunktionen Erziehung und Sozialisation. Dabei werden breite Begriffe von familialer Erziehung und Sozialisation angelegt, die an den Mollenhauer’schen sozialpädagogischen Erziehungsbegriff anknüpfen, nach dem Erziehung die Weitergabe von Werten von der einen Generation an die nächste impliziert (Mollenhauer, 1983). Der sozialisatorische und erzieherische Rahmen soll Alltag strukturieren und den Kindern etwas «mitgeben», sie «prägen». Pflegeeltern sehen in dieser Aufgabe ihr Kerngeschäft und das Zentrum, aus dem sich Familie im Kontext von Pflegefamilie konstituiert.
Im deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen eher normativen Diskurs um die Pflegekinderhilfe wird davon ausgegangen, dass genau diese sozialisatorischen und erzieherischen Leistungen im Alltag implizit geschehen und Pflege familie durch dieses Implizite ihre besonders positive Wirkung für Kinder entfalten kann (Wolf, 2012; Winkler, 2019; Helming, 2011), – auch im Gegensatz zur Heimerziehung, wo Erziehung und Sozialisation expliziter und professioneller gerahmt sind. Im Material zeigt sich, dass Pflegeeltern um Erziehung und Soziali sation besonders bemüht sind, sie strukturieren ihren Alltag bewusst für die Kinder, sie erziehen nicht intuitiv, sondern bemühen sich um eine reflektierte Erziehung der Kinder. Aus der Perspektive der Pflegekinder und der leiblichen Kinder entsteht dadurch ein Sozialisations und Erziehungsmilieu, das gerade nicht implizit wirkt, sondern sich durch eine besondere Explizitheit in rigiden Strukturen und Regelungen auszeichnet. Entsprechend entsteht ein Paradox: Erziehung und Sozialisation findet in Pflegefamilien in einem familiären Rahmen statt. Im Rahmen der Pflegefamilie erfolgt allerdings eine Übersteuerung durch einen überhöhten pädagogischen Anspruch, der die Chancen der Sozialisation und Erziehung in Familien konterkariert und ein Milieu schafft, das die Ressourcen, die ihm zugeschrieben werden, nicht oder nur bedingt nutzen kann. Vor diesem Hintergrund werden auch die Vorteile der Pflegefamilie im Vergleich zur Heimerziehung, die vor allem Fachpersonen und Öffentlichkeit betonen, mindestens teilweise obsolet.
5.3 Positiv konnotierte emotionale Beziehungen
Öffentlichkeit, Fachpersonen, leibliche Kinder und Pflegekinder sind sich weitgehend einig, dass es die emotionalen Beziehungen sind, die das Familiale in Pflegefamilien. Positive emotionale Beziehungen in Pflegefamilien können ent sprechend aus diesen Perspektiven als Gefühlsnormen (Hochschild 2006) verstanden werden, die die an einem Pflegeverhältnis Beteiligten erfüllen sollen. Ein Bruch mit diesen Gefühlsnormen ist für Öffentlichkeit und Fachpersonen begründungsbedürftig. Dabei zeigen sich allerdings Unterschiede in der Zuschreibung der Bedeutung emotionaler Beziehungen: Für leibliche Kinder und Pflegekinder ist das Erleben positiver emotionaler Beziehungen essenziell für das Erleben dessen, was sie als Familie bezeichnen. Stellt sich dieses Erleben dauerhaft nicht ein, wird der Pflegefamilie der Status einer Familie abgesprochen. Pflegekinder beziehen sich dann auf die Herkunftsfamilie als «echte Familie», leibliche Kinder schliessen Pflegekinder aus und konstituieren Familie für sich in der (leiblichen) Kernfamilie.
In der Öffentlichkeit und bei Fachpersonen werden emotionale Beziehungen stärker funktional definiert: entstehen emotionale Beziehungen zum
Pflegekind, erhöht dies Motivation und Commitment der Pflegefamilienmitglieder während der Dauer des Pflegeverhältnisses und darüber hinaus. Zusätzlich wird emotionalen Beziehungen eine positive Wirkung für die Entwicklung des Pflegekindes zugeschrieben.
Deutlich ambivalenter zeigen sich allerdings Pflegeeltern in Bezug auf den Status emotionaler Beziehungen und der damit verbundenen Gefühlsnormen. Für Pflegeeltern entstehen positive emotionale Beziehungen nicht immer und sie sind nicht von allen Pflegefamilien gewünscht. Das heisst manche Pflegeeltern brechen die Gefühlsnormen bewusst. Legitimiert wird dieser Bruch durch ein professionelles Verständnis des PflegefamilieSeins, das der emotionalen (und damit verbunden teilweise auch räumlichen) Distanz zu den Pflegekindern eine positive Konnotation gibt. Pflegeeltern sind entsprechend in einer Situation, in der sie sich zur Gefühlsnorm positionieren können und müssen und ihre Positionen dazu begründen. Dies erfordert intensive Gefühls arbeit (Hochschild, 2006), die Pflegeeltern ständig betreiben und auch von ihren leiblichen Kindern einfordern, wenn sie beispielsweise Empathie von diesen für das Pflegekind verlangen. Damit kommt Gefühlen und Gefühlsarbeit in Pflegefamilien neben den unmittelbar durch Sympathie und Dauerhaftigkeit entstehenden positiven Beziehungen immer auch eine funktionale Rolle zu: emotionale Nähe und Distanz wird pädagogisch und sozialisatorisch genutzt, sie entsteht nicht, sie wird hergestellt. Auch dies verweist wieder auf das oben bereits beschriebene Paradox: Pflegefamilien sollen idealerweise implizit sozialisatorisch und erzieherisch im Alltag wirken, auch durch die der Familie zugeschriebenen emotionalen Beziehungen. Faktisch aber arbeiten Pflegeeltern und ihre leiblichen Kinder kontinuierlich an einer Positionierung zur von aussen geforderten Gefühlsnorm. Sie befinden sich entsprechend in einem Spannungsfeld zwischen den einerseits professionellen und normativen Erwartungen an ihre Gefühlswelt in Bezug auf das Pflegekind, die mit dem Anspruch an professionelle Heimerzieher:innen vergleichbar ist (Schröder, 2017) und andererseits der Erwartung als «bloss Familie» (Winkler, 2019) sozialisatorisch und pädagogisch zu wirken.
6 Fazit
Die Analyse zeigt, dass die Bezugnahme auf «Familie» in der Schweizer Pflegekinderhilfe mit der Navigation widersprüchlicher Normen und Erwartungen einhergeht, was für Pflegefamilien Paradoxien schafft. Forschung und Praxis müssen Ansätze entwickeln, die Familiendiversität anerkennen, durch Pädagogisierung geförderte Spannungsfelder reflektieren und Flexibilität bezüglich
emotionaler Normen ermöglichen, jenseits des Ideals einer perfekten Pflegefamilie. Dies trägt zu einer verbesserten Kooperation der relevanten Akteure bei und unterstützt Familien bei komplexen Anforderungen.
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Autor:innen
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Alex Knoll, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), Departement Soziale Arbeit, Institut für Kindheit, Jugend und Familie, knol@zhaw.ch
